Nachhaltig ist eure Qualität aber nicht! – Ein neuer Qualitätsbegriff.23 | 10 | 20

„Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.“ Das ist seit langem in unserem Fachgebiet, dem Qualitätsmanagement, die Definition von Qualität. Sie entstand, um Klarheit über Konformität und Nichtkonformität zu schaffen. Die Entwicklung einer neuartigen Qualitäts- und Innovationskultur sowie die Berücksichtigung von irrational wirkenden, wahrnehmungsabhängigen, emotionalen Aspekten sowie eine dringend notwendige Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten stellen die Tauglichkeit dieses klassischen Qualitätsbegriffs der ISO 9001-Familie im Unternehmensalltag jedoch in Frage. Folgende Punkte sind dabei genauer zu betrachten:

  • Das Prinzip der Inhärenz, dass Qualität nur innewohnende Merkmale umfasse, ist zu stark einschränkend und für viele heutige Produkte nicht mehr tauglich. Eine moderne Qualitätsdefinition darf sich nicht auf inhärente Merkmale beschränken.
  • Das Prinzip der Anforderungserfüllung ist zumindest für Innovationen bestenfalls eingeschränkt tauglich, wenn diese neue Bedürfnisse adressieren oder bestehende Bedürfnisse neu adressieren, zu denen Nutzer keine Anforderungen formulieren können. Eine moderne Qualitätsdefinition darf sich nicht auf Anforderungen beschränken, sie muss auch Bedürfnisse adressieren.
  • Es gibt bezogen auf die Qualität eine globale ethische Dimension, die über Anforderungs- und Bedürfniserfüllung weit hinausgeht. Eine moderne Qualitätsdefinition muss die gesellschaftliche Gesamtbilanz und damit auch Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigen.

Eine bedeutende Dimension der Qualität ist gesamtgesellschaftlicher Art. Unsere Erde hat in vielerlei Hinsicht begrenzte Ressourcen und unser Lebensraum ist verletzlich. Die Verschwendung von Ressourcen und die Vergiftung und sonstige Beeinträchtigung des Lebensraums von Menschen, Flora und Fauna sind für einzelne Menschen, Teile regionaler Gesellschaften und letztlich für uns alle lebensgefährlich und überlebensgefährdend. Wie ist es um die Qualität von Produkten und Dienstleistungen bestellt, die zwar von Kunden genutzt werden und ihre emotionalen Bedürfnisse befrieden, dies aber leisten, während andere dadurch geschädigt werden? Und ist das nicht noch schlimmer und verwerflicher, wenn eine gleichgute Anforderungs- und Bedürfniserfüllung mit Produkten und Dienstleistungen möglich wäre, die nicht oder signifikant weniger schaden?

Nun ließe sich sagen, dass dazu ja der Gesetzgeber, wirkmächtige Verbände oder Kunden selbst Anforderungen formulieren könnten. Und dann funktioniert die klassische Definition wieder: Qualität ist der Grad der Anforderungserfüllung. Derartige Anforderungen formulieren die genannten Gruppen ja auch in inzwischen ganz ansehnlichem Umfang und durchaus unter dem Druck von Konsumenten und gesellschaftlichen Gruppen. Doch in der Realität haben Regelgeber, darunter auch die Gesetzgeber, keine Chance, ein in allen Aspekten nachhaltiges Wirtschaften einzufordern. Dafür ist die Lage insgesamt zu komplex und daher in Teilen auch noch nicht ausreichend verstanden. Oft entstehen ungewollte negative Effekte gutgemeinter Interventionen. Zudem gibt es zu viele Ziel- und Interessenkonflikte. Immer wieder weichen Gesetzgeber bestehende Regeln auf oder verweigern neue Regelsetzungen, weil sie Interessen der einen Klientel zu Lasten der anderen begünstigen, weil sie Wirtschaftswachstum nicht gefährden wollen oder aus anderen politischen und sonstigen Motiven. So bleiben Anforderungen an die Qualität bestehen, die für einzelne Gruppen oder die Gesamtgesellschaft schädlich sein können. Ist dann Anforderungserfüllung wirklich Qualität?

Auch viele Konsumenten entscheiden und handeln nicht nachhaltig. Manche aus Unwissenheit, viele gegen besseres Wissen und zum eigenen Vorteil, wieder andere sind in Lebensumständen, die eine Wahrnehmung dieser Verantwortung erschweren oder unmöglich machen.

Für die Gesellschaft ist die Gesamtbilanz aus Nutzen und Wertschöpfung sowie Schaden und Ressourceneinsatz relevant, die den kompletten Lebenszyklus von der Idee bis zur Entsorgung umfasst. Allerdings gibt es keinen Konsens darüber, wie das eine oder das andere aus gesellschaftlicher Sicht zu bewerten ist.

Sowohl Konsumenten als auch Hersteller haben eine weitreichende Verantwortung. Es liegt in der ethischen Verantwortung von Konsumenten, Produkte zu fordern und zu bevorzugen, deren Bilanz für die Gesellschaft akzeptabel ist. Es gehört zur ethischen Verantwortung der Hersteller und Anbieter, die gesellschaftliche Gesamtbilanz ihrer Produkte und Dienstleistungen zu verbessern, mehr noch, zu optimieren. Natürlich verstärkt das bestehende und schafft neue Zielkonflikte – wäre es leicht oder unstrittig müssten wir nicht darüber reden.

Doch wie kann gestützt auf diese Betrachtungen und Schlussfolgerungen eine moderne Qualitätsdefinition aussehen? Ein pragmatischer Ansatz ist es, die bestehende Definition zu nehmen und sie so anzupassen, dass sie die drei oben hergeleiteten Aspekte berücksichtigt. Dieser Prozess erfolgt stufenweise:

Ausgangssatz:
Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.

  1. Erste Iteration: Wegfall „inhärent“.
    Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen erfüllt.
  2. Zweite Iteration: Berücksichtigung der Bedürfnisse.
    Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt.
  3. Dritte Iteration: Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gesamtbilanz (Nachhaltigkeit).
    Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt sowie eine günstige Gesamtbilanz für die Gesellschaft erzeugt.

(Anmerkung: Günstig meint, sowohl eine weniger negative als auch eine stärker positive Bilanz zu schaffen.)


Was meinen Sie: ist das ein Qualitätsbegriff, der uns anspornen kann, besser und nachhaltiger zu werden? Taugt der für die Praxis oder bleibt nachhaltige Qualität eine Utopie?

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

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