Eckpunkte für Pflege-Reformvorhaben – Zwischen Paradigmenwechsel und Euphemismus30 | 04 | 24

Pflegereform, Pflegekompetenzgesetz

Lange war von der Bundesregierung nicht viel zur Pflege zu hören. Außer der etwas missglückten Prämienagenda während der Pandemie gab es kaum Impulse. Das hat nicht dazu beigetragen, eine neue Perspektive für die großen Brocken wie nachhaltige Finanzierung und Fachkräftemangel zu schaffen.

Doch im Dezember 2023 ließ das Gesundheitsministerium (BMG) ein Eckpunktepapier veröffentlichen, das von allen Seiten begrüßt und sogar als Wegweiser für die Zukunft der Pflege gepriesen wird. Es handelt sich um die Empfehlungen einer Expert:innengruppe, die im parlamentarischen Verfahren noch 2024 in ein Pflegekompetenzgesetz münden sollen.

Die Ziele des Vorhabens bestehen darin, die Abhängigkeit der Pflege von der Medizin zu verringern, Arbeitsabläufe zu vereinfachen und das Ansehen des Berufsfeldes zu erhöhen. Das soll laut Bundesgesundheitsminister Prof. Lauterbach über eine deutliche Ausweitung der Kompetenzen der Pflegekräfte geschehen. Die Begriffe Kompetenz und Arbeitsprozesse machen diese Initiative aus der Qualitätsperspektive besonders interessant.

Außerordentlicher Reformbedarf

Die Branche sehnt sich nach einer grundsätzlichen Reform der Pflege in Deutschland. Von den Regierungen wurden in den vergangenen 30 Jahren seit der Einführung der Pflegeversicherung etliche Gesetze verabschiedet, um der tiefgreifenden und sich verschärfenden Herausforderungen Herr zu werden. Viele davon sind teils im demographischen Wandel, teils in der schwachen Stellung der Profession und auch in gesellschaftlichen und politischen Missverständnissen begründet.

Entstanden ist ein immer komplexeres Regelungs-Stückwerk. Und jede Gesetzes-Novelle löst einen enormen Aufwand für die Pflegeeinrichtungen und Kliniken aus. Das System der Pflege-Bedarfsbemessung und -gewährung ist für Laien längst nicht mehr zu durchdringen, es gleicht einem bürokratischen Dickicht. Gleichzeitig wird die Suche nach Pflegeplätzen immer schwieriger. Ebenso sieht es mit der Personalbedarfs-Bemessung aus. Angesichts der ungeheuren Herausforderungen fördert das Verdruss – bei Menschen, die gute pflegerische Leistungen benötigen und erwarten, bei Angehörigen und nicht zuletzt bei den beruflich Pflegenden.

17 Punkte als Antwort?

Letztere stehen jedes Jahr am 12. Mai weltweit im Mittelpunkt. Das ist der internationale Tag der – beruflich – Pflegenden. Das Pflegekompetenzgesetz, das mit dem Eckpunktepapier in die öffentliche Diskussion gebracht wurde, soll den beruflich Pflegenden eine gebündelte Antwort auf die Herausforderungen der Branche liefern. Der Bundesgesundheitsminister legt die Hürde sehr hoch, Zitat: „Wir wollen eine grundsätzliche Reform der Pflege auflegen“.

Inzwischen hat die Diskussion zu dem veröffentlichten Entwurf an Fahrt aufgenommen. Grundsätzlich wird das 17 Punkte umfassende Papier von vielen Seiten begrüßt. Aber handelt es sich wirklich um einen wegweisenden „Schlag“ für die Zukunft der Branche, einen Paradigmenwechsel und die ersehnte große Reform?

Manchmal haben scheinbar kleine Details das Potenzial, Ereignisse nüchterner einzuordnen. Die Vorgänger-Regierung hatte 2021 das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) beschlossen. Darin wurde Pflegefachkräften im Rahmen der häuslichen Krankenpflege die Möglichkeit eingeräumt, Empfehlungen für die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln abzugeben. Eine ärztliche Verordnung ist dann nicht erforderlich (BGBl., 2022).

Wunsch und Wirklichkeit – die zähe Umsetzung von Reformen

Der Gesetzgeber ist also bereits damals davon ausgegangen, dass Pflegefachkräfte für vieles ausreichend qualifiziert sind. In begrenztem Rahmen wurde ihnen gestattet, was sonst Ärzten vorbehalten ist, nämlich bestimmte für die Pflege benötigte Hilfsmittel in der häuslichen Pflege zu verordnen. Freilich nutzt das Gesetz nicht den Begriff der Verordnung, sondern wählt geschickt „Empfehlungen […] abgeben“. Dem Sinne nach kommt die Regelung aber einer Verordnung gleich und das ist für den Ablauf und das Ergebnis auch sinnvoll. Denn Pflegefachkräfte haben im täglichen Handeln vor Ort den erfahrenen und geschulten Blick, mithin die Kompetenz dafür, was tatsächlich für ein gutes Pflege-Resultat erforderlich ist. Die Verordnung dieser Hilfsmittel über den Arzt stellt eigentlich einen zusätzlichen, unnötigen Prozess-Schritt dar, der den Bürokratieaufwand erhöht und Risiken birgt.

Mit dem GVWG wurde also eine Regelung eingeführt, die das Potential hat, die Effizienz und Effektivität pflegerischen Handelns in der häuslichen Pflege zu verbessern. Allein, bisher hat sie sich nicht flächendeckend durchgesetzt, weil es vielfach an der Finanzierung des in den Pflegebereich verlagerten bürokratischen Aufwandes mangelt.

In dem Eckpunktepapier wird in Punkt zwei die pflegerische Verordnung von Hilfsmitteln erneut postuliert. Wie im GVWG soll diese Möglichkeit auf die häusliche Pflege begrenzt bleiben. Eine Erweiterung auf andere Pflegesektoren, zum Beispiel Heime, ist nicht vorgesehen. Allerdings soll das Produktportfolio auf alle Hilfsmittel ausgeweitet werden, Zitat: „…die zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständigere Lebensführung ermöglichen“ (§40, Abs. 1 Satz 1 SGBXI). Andere Hilfsmittel sind davon nach wie vor ausgenommen. Die vorgeschlagenen Änderungen in diesem Punkt sind also relativ marginal.

Wesentlich weiter geht in diesem Zusammenhang das Projekt „Erwin“ in Nordost-Deutschland, bei dem über drei Jahre die Übertragung kompletter ärztlicher Aufgaben auf Pflegefachkräfte getestet wird. Die Verordnung von Hilfsmitteln ist nur ein Teilbereich. Dort hat man sich dafür entschieden, die für diese Übernahme erforderlichen Qualifikationen in einer sechsmonatigen Zusatzausbildung für Spezialisierte Pflegefachpersonen (SPFP) zu bündeln. Die SPFP wird im Zuge des Projektes entwickelt.

Irreführender Kompetenzbegriff

Der Entwurf für den Gesetzestitel aus dem Eckpunktepapier beinhaltet den Begriff „Kompetenz“. Ausgehend von den in Normen, unter anderem 14hunderter und 17hunderter Reihe sowie 9000, wird Kompetenz als Fähigkeit angesehen, Wissen anzuwenden. Erfahrung, Ausbildung und fachliches Wissen bilden demnach gemeinsam die Kompetenz einer Pflegefachkraft.

Dass Pflegefachkräfte nach dieser Definition die Kompetenz besitzen, viele gesundheitsrelevante Handlungen selbstständig durchzuführen und entsprechende Prozesse in eigener Verantwortung zu regeln, hat der Gesetzgeber eigentlich bereits mit dem GVWG dokumentiert. Abgesehen davon erwerben Pflegefachkräfte mit ihrer Qualifikation umfangreiches Know-how, um komplexe Prozesse eigenverantwortlich zu steuern (s. §4, Pflegeberufegesetz).

Insofern ist es irreführend, dass bei dem Vorschlag für die Benennung des Gesetzes der juristische Kompetenz-Begriff genutzt wird. Der bedeutet nämlich „Zuständigkeit“. Das Gesetz sollte daher eher Fachpflege-Autorisierungs-Gesetz heißen. Denn es regelt nicht die Kompetenzen, sondern das, was Pflegefachkräften in Zukunft an Interventionen erlaubt ist.

Entwurf bei „Kompetenz“ nicht weitreichend genug

Pflegefachkräfte sollen nachgerade die Zuständigkeit für Entscheidungen erhalten, für die sie ehedem die Kompetenz, zumindest aber die Qualifikation haben. Es muss für Außenstehende befremdlich klingen, dass dies in der Branche eine Welle der Freude verursacht. Doch bisher ist es so, dass quasi die Werkstattmeister:in den Automobilingenieur um Erlaubnis bitten muss, ob sie das Auto reparieren darf.

Allerdings ist der Entwurf noch nicht einmal so weitreichend. Denn in dem Eckpunktepapier sind die Formulierungen mit dem vagen „Prüfen“ versehen. Viele Punkte sind im Konjunktiv formuliert, enthalten Absichtsbekundungen „wir möchten“ oder sehen Änderungen erst nach Evaluation entsprechender Projekte vor.

Das bedeutet auf das Automobil-Beispiel übertragen, dass die Werkstattmeister:in eine Empfehlung für die Reparatur eines defekten Blinkerhebels geben darf. Aber für den ebenfalls erforderlichen Wechsel des Kühlmittelbehälters durch die Werkstatt muss erst in einem Prüfprojekt ermittelt werden, ob die Durchführung ohne die Genehmigung durch einen Fahrzeug-Ingenieur in Zukunft möglich sein könnte, ohne dass ein positives Prüfergebnis bereits zwangsläufig eine Reparatur vorsieht. Im Übrigen würde das dann auch nur für Fahrzeuge mit Verbrennermotoren gelten, Elektrofahrzeuge wären davon ausgenommen. So ist das in der Pflege: Die Autorisierungs-Vorschläge gelten nur für die ambulante Pflege. Als entbehrten die fachbezogenen Interventionen der Pflegefachleute an anderen Orten der pflegerischen Kompetenz.

Fazit: bei näherem Hinsehen ein Reförmchen

Würde die Werkstatt-Kund:in in dem Beispiel über zahllose Fahrzeuge verfügen, wäre dieses Prozedere vermutlich nur mäßig brisant. Da die Situation in der Pflege aber eher das Car-Sharing-Modell ist, bei dem es hohe Hürden für die Zulassung als Nutzer:in und schlicht zu wenige Fahrzeuge gibt, stellt sich die Frage nach der Effizienz. Werden hier wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die großen Herausforderungen in der Pflege anzugehen?

Um die Selbstverantwortung der Pflege zu fördern, um rasch etwas gegen den Pflegenotstand zu tun, um das Berufsfeld attraktiv zu machen und die Ziele des Eckpunktepapiers zu erreichen, bedarf es ungeheurer Anstrengungen. Nur so lassen sich die dort zusammengestellten Ideen und Vorschläge möglichst rasch und über die ambulante Pflege hinaus in allen Sektoren umzusetzen.

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.