Eine Hommage auf Zygmunt Bauman – Unsere flüchtige Moderne24 | 04 | 24

Hommage

Der hat was erlebt, Zygmunt Bauman, aufgewachsen im polnischen Posen. Vor deutscher Besatzung floh seine jüdische Familie in die Sowjetunion. 1944 wurde er dort einberufen und als Politoffizier in einem aus deportierten Polen gebildeten Regiment der „Polnischen Streitkräfte in der Sowjetunion“ eingesetzt. Er war dann Offizier der polnischen Geheimpolizei und Agent des Militärischen Informationsdienstes. 1953 wegen Westkontakten seines Vaters entlassen, absolvierte er Promotion und Habilitation an der Universität Warschau, wo er ab 1954 als Dozent für Soziologie wirkte. 1968 emigrierte er nach Israel, 1971 wurde er auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds in Großbritannien berufen. Viele Leben in einem, dunkel und hell, mit Volten und Wendungen, persönlichen, beruflichen, wissenschaftlichen und historischen Extremen.

In der Soziologie hat Zygmunt Bauman unübersehbare Spuren hinterlassen, hat unter anderem, was uns heute an Transformation so bewegt und befasst, belastet und beflügelt in großartiger Weise beschrieben und erklärt und so besser verstehbar gemacht. Er verwendet dafür die Begriffe „schwere Moderne“ (solid modernity) und „flüchtige Moderne“ (liquid modernity).

Er charakterisiert die schwere Moderne als geordnet, rational, vorhersehbar und relativ stabil. Ihre Organisationen sind durch bürokratisches Vorgehen geprägt, das eine große Effizienz ermöglicht. Zur Problembewältigung und für die Erzeugung technischer Lösungen setzt der Mensch auf „praktische Vernunft“. Gesellschaftliche Strukturen sind im Gleichgewicht. Die Menschen leben in einem stabilen Normengefüge und Veränderungen erfolgen in relativ geordneter und vorhersehbarer Form.

Die flüchtige Moderne hingegen ist schwer zu definieren, eben weil sie flüchtig, in immerwährender Veränderung ist. Laut Bauman lässt sich die flüchtige Moderne am besten erfassen, indem wir ihre Unterschiede zur schweren Moderne betrachten: Sie zerrüttet die Sicherheiten des Individuums, Arbeitsverhältnisse sind nicht mehr langfristig, Kompetenzen verlieren an Wert, Unternehmen sind in ständiger Umgestaltung. (Und wenn Sie den Begriff VUCA nicht mehr hören können und nicht mehr verwenden wollen, haben Sie mit „flüchtiger Moderne“ nun eine pfiffige Alternative.)

Baumans Definition der schweren Moderne wirkt für mich geradezu wie eine Wesensbeschreibung des klassischen Qualitätsmanagements. Ein Qualitätsmanagement in und für stabile Strukturen.

Welche Art Qualitätsmanagement brauchen wir, wenn heute – in der flüchtigen Moderne, in der der VUCA-Welt – diese Stabilität nicht gegeben ist? Ein agiles Qualitätsmanagement?

Zuletzt noch ein Plädoyer, das ich schon oft gehalten habe und hier wiederholen möchte: Qualitätsmanagement braucht ganz dringend Wissen und Erkenntnisse der Geisteswissenschaften, darunter die Soziologie und die Psychologie. Organisationen und Qualitätsmanagementsysteme sind soziotechnische Systeme, die wir immer besser verstehen lernen müssen, um sie so zu gestalten oder eher ihre Selbstgestaltungskräfte so beeinflussen zu können, dass mehr gewollte als ungewollte Wirkungen in und mit ihnen entstehen.

 

Literaturverzeichnis:

Bauman, Zygmunt (2003); Flüchtige Moderne; Suhrkamp Verlag, Berlin
Sommerhoff, Benedikt (2021) QM im Wandel, Carl Hanser Verlag, München

 

Meine DGQ-Blogserie 2024 „Eine Hommage auf…
Eine Hommage ist eine „Huldigung“ für eine Geistesgröße. Ich möchte im Laufe des Jahres 2024 zwölf Menschen vorstellen, die einen wertvollen Beitrag für das QM geleistet haben, egal ob dieser explizit fürs Qualitätsmanagement oder zunächst ohne direkten Bezug dazu entstand. Im Kern geht es darum, interessante Inputs herauszuarbeiten, bevorzugt Inhalte, die im QM kaum bekannt, nicht vertraut sind und deren Bezug zu unserer Arbeit ein Aha auslöst.

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

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