Normungsaktivitäten der DGQ zu Pflege und Gesundheit, Teil II5 | 07 | 22

Krankheit und Pflegebedarf – hier liegen zwei neue Schwerpunkte in der Normungsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Qualität (DGQ). Damit folgt sie einer integrierten Sicht der Qualität, die nicht nur nach Systemen und Prozessen, sondern auch nach den Anforderungen von Kundinnen und Kunden fragt und den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Diese Perspektive bringt sie in mehrere nationale und internationale Normungsgremien ein.

In einer Blog-Reihe stellen wir das Engagement des DGQ Fachbereichs Pflege in der Normung vor. Der zweite Teil beschreibt die entsprechenden Aktivitäten in Gremien der Deutschen Kommission Elektrotechnik (DKE) und der internationalen Spiegelausschüsse. Lesen Sie hier Teil 1 der Blog-Reihe »

Gesellschaft im Wandel

Mittlerweile gibt es in Deutschland über vier Millionen nach dem Gesetz pflegebedürftige Menschen. Hinzu kommen über acht Millionen Schwerbehinderte, ein verschärfter Fachkräftemangel und eingefrorene öffentliche Ressourcen. Entsprechend ist die Suche nach Lösungen für die sich daraus ergebenden Dilemmata für die Leistungserbringung und -qualität in vollem Gange.

Sei es, dass Menschen Unterstützung im Haushalt benötigen, von Pflege abhängig sind oder durch Erkrankung oder Behinderung Hilfe brauchen – der Bedarf steigt. Gleichzeitig bringt der technologische Fortschritt einen ungeahnten Schub an Möglichkeiten durch die allgegenwärtige Digitalisierung. Vor allem im Zusammenspiel von Technik und vernetzten Systemen bieten sich vielversprechende Möglichkeiten, um Herausforderungen wie Fachkräftemangel und demographischem Wandel etwas entgegen zu setzen. Dadurch stellen sich neue Fragen zur Qualität der Leistungen und der regelnden Prozesse mit weitreichenden Folgen für das Qualitätsmanagement.

Die Zahlen sind gewaltig. Man muss sich vor Augen führen, dass jeder versorgungsbedürftige Mensch auch An- und Zugehörige hat, die ebenfalls unterschiedliche Informations-, Beratungs-, und Unterstützungsbedürfnisse in einer Versorgungssituation haben. Diese Laiengruppe der potenziell Unterstützenden wird übrigens statistisch kleiner. Dies gilt sowohl bezogen auf die Gesamtbevölkerung, als auch im Verhältnis zu den Versorgungsbedürftigen. Damit verstärkt sich der Druck im Dienstleistungssystem zusätzlich.

Normung an der Schnittstelle Technik zu sozialen Dienstleistungen

Die Standardisierung fachbezogener Prozesse ist in der Pflege weit fortgeschritten und in Teilen hochgradig institutionalisiert. Beim Einsatz vernetzter Technik in der Pflege gibt es allerdings ein Regelungsvakuum. Bezogen auf die entstehenden Produkte und Dienstleistungen herrscht momentan geradezu eine Pionierphase. Start-ups, Mittelständler und Konzerne haben die Bedarfe und das ungeheure Potenzial dieses Segments im Gesundheitsmarkt entdeckt. Sie entwickeln und produzieren fleißig Geräte, Apps und Software für den Einsatz im Versorgungsprozess.

Doch dieser Markt der Assistenzsysteme und intelligenter Hilfsmittel wird zunehmend unübersichtlich. Das gilt nicht nur für die große Zahl neuer Produkte, sondern auch für die vielfältigen technischen Möglichkeiten und Lösungen. Gleichzeitig werden die Anforderungen an Sicherheit, Konformität und Kompatibilität komplexer. Das stellt wiederum eine Herausforderung für die Dienstleistungen dar, die solche Systeme nutzen wollen.

Regelungsbedarf

Der Einsatz technologischer Systeme in der Pflege und bei hilfsbedürftigen Menschen erfordert Kenntnisse zu Installation, Bedienung sowie zu ethischen und rechtlichen Fragen. Hinzu kommen die Anforderungen an Produktsicherheit und der Schutz der Persönlichkeit, die im sozialen Setting besonders hoch sind.

Für Assistenzsysteme, Apps und Technologien in der Pflege gibt es unterschiedliche Regelungsmöglichkeiten. Einige schlagen sich in Gesetzen nieder, andere als Normen. Es gibt Standards, Richtlinien und Anwendungsregeln.

Beispiel Notrufsysteme

Man stelle sich vor, dass in einem zukünftigen Haushalt eines pflegebedürftigen Menschen so viele digitalisierte Unterstützungsmöglichkeiten ausgeschöpft würden wie der technische Fortschritt und das Budget es eben hergeben. Spätestens beim Anschluss der entsprechenden Geräte, die jeweils ihr programmiertes Eigenleben mitbringen, stellt sich ein Problem: Wie werden die ermittelten Daten aus Sensoren und an Aktoren, von Monitoren, Messmodulen und so weiter übertragen?

Irgendwo müssen die Informationen ausgewertet werden, um zu einer Aktion zu führen und dem pflege- oder hilfebedürftigen Menschen einen Nutzen zu bringen. Die Datenübertragung geschieht über Protokolle, meist über Funk an Sammeleinheiten, teilweise aber auch kabelgebunden über das Telekommunikationsnetz. An einer Stelle in dem System gibt es eine Intelligenz, die diese Daten auswertet und eine Handlung veranlasst.

Bei klassischen Notrufsystemen ist das ein Mensch, der Informationen erfasst, bewertet und priorisiert. Dies gilt für Sprache ebenso, wie für bestimmte von Notrufgeräten eingehende Meldungen. Notrufsysteme sind Pflegehilfsmittel und werden in Deutschland hunderttausendfach bei Menschen eingesetzt, um ihnen ein längeres Leben in der eigenen Häuslichkeit trotz Pflegebedürftigkeit zu ermöglichen.

Tatsächlich nutzen Hersteller von Notrufgeräten für die Datenübertragung eine Vielzahl unterschiedlicher Protokolle. Die Folge ist, dass Systeme häufig nicht miteinander kommunizieren können. Dies erhöht den Investitionsaufwand und die Ressourcenbindung bei den Anwendern und Nutzern, ohne dass dies einen Gebrauchsmehrwert bringt. Im Gegenteil: Wenn diese Systeme aufgrund ihrer Vielfalt in den Datenübertragungsmechanismen zu komplex werden, steigen Aufwand und Risiken.

Regelungsbedarf durch Normen

Ziel wäre hier eine Protokoll-Harmonisierung ohne Funktionseinschränkung. Dafür braucht man verbindliche Standards. Die müssen berücksichtigen, dass in dem Haushalt des pflegebedürftigen Menschen der Zukunft auch andere Hilfsmittel eingesetzt werden als der Notruf. Deren Datenprotokolle dürfen jedoch das Gesamtsystem nicht unnötig komplexer, unsicherer und teurer machen.

Mit den Übertragungsprotokollen ist ein Beispiel genannt, das Vorteile der Standardisierung aufzeigt. Die Datensprache ist dabei wiederum nur ein Aspekt, der für Standardisierungsbedarfe sorgt. Datensicherheit, -speicherung und der Umfang der Informationssammlung spielen ebenfalls eine Rolle. Zu guter Letzt müssen die Produkte auch noch Menschen bei der Erbringung einer essentiellen Dienstleistung unterstützen. Dafür sind standardisierte, effiziente und gleichzeitig bedarfsorientierte Schulungssysteme erforderlich.

Ein weiteres Beispiel für den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme sind niedrigschwellige Hilfsmittel auf digitaler Basis wie sie Pflege-Apps (DiPA) darstellen. Das Angebot an solchen technischen Unterstützungsmöglichkeiten nimmt momentan sprunghaft zu. Im Zusammenspiel mit pflegerischen Leistungen entwickeln sie viel Potenzial für die Effizienzsteigerung der Leistungen, höhere Qualität und mehr Zufriedenheit bei Kunden und Kundinnen sowie den Pflegenden. Die Liste ließe sich erweitern um viele Beispiele von Softwareprodukten über vernetzte Systeme bis hin zu Pflegerobotern. Überall ergeben sich Regelungsbedarfe für Produktion, Installation und Anwendung.

Internationales Fachgebiet AAL

Beratung, Installation, Wartung, Einsatz und Gebrauch technischer Assistenzsysteme stellen in sich komplexe Prozesse dar. Durch ihre Vernetzung zu einem System sind sie mit der Dienstleistung Pflege und anderen Unterstützungsdiensten zu einem eigenen Fachgebiet gereift. Es trägt die Abkürzung AAL. Das Akronym steht für Active Assisted Living, veraltet Ambient Assisted Living. Nach der Definition des Deutschen Kuratoriums Elektrotechnik (DKE) umfasst AAL „Konzeptionen, Systeme, Software und Technologien, die meist in Kombination mit Dienstleistungen eine bedarfsgerechte Unterstützung in dynamischen Lebenswelten“ ermöglichen. Damit sind Ziele und Inhalte vergleichbar mit dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eingeführten Konzept „Mensch Technik Interaktion“ (MTI) und haben große Schnittmengen zum Bereich Active Healthy Aging (AHA).

AAL umfasst mittlerweile eine weltweite Community, in die sich Sozialdienstleister, Gerätehersteller, Kundengruppen und viele andere Stakeholder einbringen. Sie eint, für die zuvor beschriebenen Anwendungsgebiete Richtlinien, Standards und Normen aufzustellen. Auffällig ist, dass in diesem Falle eine Verortung auf europäischer Ebene fehlt. Die entsprechenden Aktivitäten finden auf nationaler Ebene beim DKE und international bei der International Electrotechnical Commission (IEC) statt.

Die DGQ engagiert sich auf beiden Ebenen, national im Systemkomitee AAL (DKE K801) und dem Arbeitskreis für Monitoring und Assistenzleistungen K801.0.9 sowie international bei Arbeitsgruppen zu Spezifikationen, Qualität und Konformität (IEC SyC AAL WG3) und zur Wirksamkeit (IEC SyC AAL WG4).

Risiken und Nebenwirkungen

Soziale Dienstleistungen wandeln sich mit den gesellschaftlichen Zwängen, den sich daraus ergebenden Bedarfen und dem technischen Fortschritt. Durch die sogenannte Digitalisierung hat die Pflege eine neue Zukunft. Sie erweitert die Möglichkeiten der Interaktion und macht den Pflegeprozess effizienter und effektiver. Damit eröffnet sie neue Möglichkeiten für gute Pflege und somit für die Pflegequalität.

Das birgt bei aller Euphorie auch Gefahren. Nämlich dann, wenn die Kundinnen und Kunden zur bloßen Projektnummer degenerieren und Pflege durch die Zuhilfenahme intelligenter Assistenzsysteme einen gänzlich anonymen und industriellen Charakter bekommt.

 

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Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.