Erst Dieselentscheidung, dann Malamud-Urteil: Zur Rechtsverbindlichkeit von Normen30 | 07 | 24
Das sogenannte Malamud-Urteil vom März dieses Jahres hat in der Welt der Normenanwender und Normungsorganisationen für Aufsehen gesorgt: Neben der Frage nach dem Urheberrechtsschutz von Normen wurde insbesondere auch der Aspekt der Rechtsverbindlichkeit von Normen adressiert. Vom Gericht bestätigte Erkenntnis: Harmonisierte europäische Normen sind Teil des Unionsrechts und damit rechtsverbindlich.
Was müssen interessierte Parteien jetzt wissen?
Das Malamud-Urteil: Normen als Teil des EU-Rechtsrahmens
Konkret ging es bei dem Entscheid vom April 2024 um vier technische Normen für die Spielzeug-Herstellung: Der US-amerikanische Internet-Aktivist Carl Malamud hatte diese öffentlich online einsehbar gemacht, um auf Sicherheitsmängel bei bestimmten Produkten aufmerksam zu machen. Die daraufhin erfolgte Klage der europäischen Normungsorganisationen auf Verletzung des Urheberrechts wurde mit dem EuGH-Urteil in letzter Instanz abgeschmettert – die Begründung: Die genannten harmonisierte Normen seien grundsätzlich Teil des europäischen Unionsrechts und damit von öffentlichem Interesse. Damit sind diese öffentlich verfügbar zu machen, so dass die interessierten Kreise prüfen können, ob diese eingehalten wurden.
Das EuGH-Urteil gewährt EU-Bürgerinnen und -Bürgern daher das Recht, harmonisierte europäische Normen grundsätzlich kostenlos einsehen zu dürfen. Das öffentliche Interesse wiegt hier stärker als die Urheberrechte. Die Normungsorganisationen müssen nun eine Möglichkeit anbieten, diese kostenlos für den oben genannten Zweck einsehbar zu machen.
Relevanz für Unternehmen mit QM-Systemen und sicherheitsrelevanten Produkten
Für Unternehmen ergibt sich aus dem Urteil folgende Schlussfolgerung: Harmonisierte europäische Normen sind von den betroffenen Organisationen anzuwenden, sofern die entsprechenden Vorgaben aus dem EU-Recht für die Organisation anwendbar sind. Verstößt ein Unternehmen gegen diese Vorgabe, indem es etwa sicherheitsgefährdende Produkte ohne Berücksichtigung der normativen Vorgaben auf den Markt bringt, verstößt es hier gegen europäisches Recht. Um das feststellen zu können, müssen Verbraucher und weitere Stakeholder betroffene Produkte auf Einhaltung der Normen prüfen können.
Die Verantwortung für die Umsetzung QM- und sicherheitsrelevanter Anforderungen liegt bei den Unternehmen und erfolgt über deren QM-Systeme. Ob letztere funktionieren, prüfen und bestätigen die unabhängigen akkreditierten Zertifizierungsstellen. In der Realität ist es allerdings auch so, dass die Rechtsverbindlichkeit harmonisierter Normen wie der ISO 9001:2015 als Bestand des Unionsrechts schlichtweg nicht hinreichend bekannt ist und beachtet wird.
Konformitätsvermutung zweifelhaft
Die infolge des Urteils im Fokus stehenden harmonisierten Normen verpflichten herstellende Unternehmen in der EU zur Einhaltung gewisser Sicherheitsanforderungen. Bislang genügte mit Blick auf die von den Produktherstellern postulierte Übereinstimmung ihrer Produkte mit den einschlägigen EU-Harmonisierungsrechtsvorschriften – einschließlich der harmonisierten Normen – die grundsätzliche Konformitätsvermutung. Regelmäßige Produktrückrufe wegen Sicherheitsmängel weckten jedoch immer wieder Zweifel daran. Diesen Zusammenhängen begegnete nun der EuGH mit der Aussage, dass die verliehene Rechtswirkung die Normen zu einem „Werkzeug“ machten, „das für die Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf die Ausübung des Rechts auf freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen auf dem Unionsmarkt von wesentlicher Bedeutung ist.“
Das EuGH-Urteil unterstreicht nochmal, dass Normenanwendung im oben genannten Kontext der „harmonisierten Normen“ eine hohe Verbindlichkeit zukommt. Das Urteil stellt eine konsequente Fortsetzung der Rechtsprechung vom März 2023 dar, als der EuGH im Rahmen des „Dieselurteils“ bereits ähnliches klargestellt hatte: Damals urteilte der Gerichtshof, dass eine dem Autokäufer vom Händler ausgehändigte Konformitätsbescheinigung diesem vertraglich bindend versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug allen EU-Rechtsvorschriften entspricht – einschließlich der einschlägigen Normen. Insbesondere mit Blick auf die rechtliche Bedeutung des QM hat das jüngste EuGH-Urteil unterstrichen, welche zentrale Rolle Qualitätsmanagementsystemen nach ISO 9001 und den Qualitätsverantwortlichen jetzt und in Zukunft zukommt.
Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen?
Unternehmen ist mehr denn je zu empfehlen, stets über die aktuelle Rechtslage und Rechtsfolgen hinsichtlich einer nicht angemessenen oder nicht wirksamen Umsetzung von QM- und produktsicherheitsrelevanten Anforderungen informiert zu sein. Dies gilt ganz besonders für Unternehmen, die sicherheitsrelevante Produkte und Dienstleistungen anbieten. Entsprechende Anforderungen müssen die Unternehmen in ihr QM-System – bzw. in das Gesamtmanagementsystem – implementieren.
Gleichermaßen unterstreicht das Urteil die wichtige Aufgabe der Marktüberwachungsbehörden, illegal auf den Markt gebrachte Produkte zeitnah zu identifizieren und rechtliche Maßnahmen gegen die Hersteller und Inverkehrbringer zu ergreifen.
Für Normungsorganisationen gilt, dass sie die betroffenen Normen in angemessener Form kostenfrei den interessierten Parteien zur Verfügung stellen müssen, damit deren Anwendung überprüft werden kann. Aktuell arbeiten die internationalen und nationalen europäischen Normungsorganisationen daran, ein Tool bereitzustellen, das die kostenlose Einsicht in die Normen ermöglicht.
Last but not least heißt das für die Deutsche Gesellschaft für Qualität: Wir sind gefordert, auch weiterhin über aktuelle Entwicklungen, Strukturen und Inhalte von Normen und Standards zu informieren und neue Entwicklungen einzuordnen. Durch unsere Trainings- und Beratungsangebote bieten wir die Möglichkeit, die Kenntnisse bei den interessierten Parteien aktuell zu halten und unterstützen, dass betroffenen Personen und Funktionsträger sich ihrer Verantwortlichkeit und der Rechtslage klar(er) bewusst werden.
Interessierte können sich in diesen beiden Fachartikeln der QZ – Qualität und Zuverlässigkeit näher über das Malamud-Urteil informieren (QZ-Digital-Abonnement erforderlich):
DGQ-Stellungnahme zum Malamud-Urteil »
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs stößt Änderungen im Umgang mit harmonisierten Normen an »