Digitalisierung ohne Qualität in der Pflege?21 | 04 | 23

Digitalisierung, Pflege

Immer hören wir vom demographischen Wandel. Was heißt das eigentlich? Dazu ein paar Fakten: Die Zahl der Hochbetagten hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt. (Destatis, 2023a). Zu dieser statistischen Gruppe werden Menschen gezählt, die 85 Jahre oder älter sind. Davon gab es in Deutschland im Jahr 2021 insgesamt 2,6 Millionen. Das sind fast so viele Menschen, wie Hamburg und Köln gemeinsam an Einwohnenden haben.

Mit dem Alter steigt bekanntlich das Krankheits-Risiko. Auch die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, gesundheitsbedingte Unterstützung wie Pflegeleistungen zu benötigen. Menschen mit gesetzlich festgestelltem Pflegebedarf gab es in Deutschland im vergangenen Jahr mehr als 5 Millionen (Destatis, 2023b). Das sind beinahe so viele Menschen, wie in Norwegen leben.

Da unsere Gesellschaft auf dem Solidaritäts-Prinzip beruht, muss der Staat sich um Ressourcen bemühen, um steigende Bedarfe auffangen zu können. Unsere Regierungen kennen die Herausforderungen, die sich aus den zuvor geschilderten demographischen Veränderungen ergeben, bereits seit langem. Die Chancen der Digitalisierung stärker zu nutzen, ist erklärtes Ziel der Ampel-Koalition.

Die jüngste Initiative des BMG

Im März diesen Jahres hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im Auftrag der Bundesregierung eine „Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege“ (BMG, 2023) gestartet. Viele in der Branche hatten einen solchen Ansatz seit langem gefordert. Es ist allein schon positiv, dass der Begriff „Pflege“ im Titel erscheint.

Doch: In der jetzt veröffentlichten Strategiebroschüre fällt bereits in der Inhaltsübersicht auf, dass der Begriff „Qualität“ fehlt. Bei den Kernvorhaben werden außerdem zuerst die Umsetzung der Telematik-Infrastruktur und die Förderung der Telemedizin genannt. Die Pflege bekommt ein Kompetenzzentrum Digitalisierung und Pflege. Es soll sich darum kümmern, dass sogenannte Telematik-Infrastruktur(TI)-Anwendungen ein positives Nutzer:innenerlebnis aufweisen. Auch an dieser Stelle fehlt der Begriff „Qualität“ und ein Hinweis, dass digitale Unterstützungssysteme den Pflegeprozessen dienen sollten. Andernfalls zahlt die Gemeinschaft der Beitragszahlenden eventuell Anwendungen, die zwar zu netten Erlebnissen führen, aber wenig pflegerischen, sprich „gesundheitlichen“ Nutzen haben.

Mehr Wert für die Qualität in der Pflege?

Aus pflegerischer Sicht stellt sich bezüglich der Strategie Ernüchterung ein. Tatsächlich bleibt das BMG zum Nutzen für die Pflege vage. Es ist zu hoffen, dass das zu schaffende Kompetenzzentrum die vielen digitalen Helferlein, die am Markt mit den Hufen scharren, einmal auf ihren pflegerischen Nutzen prüft. Allerdings ist diese Aufgabe eigentlich bereits Teil der Zulassungsverfahren für elektronische Pflegehilfsmittel durch die Kassen (GKV), bzw. für digitale Pflegeanwendungen durch das Bundesamt für Arzneimittel (BfArM).

Wenn wirksame Systeme den Pflegeprozess entlasten und das Pflege-Outcome verbessern würden, diente dies den ständig am Limit arbeitenden Pflegenden. Die Beitragszahlenden wüssten, dass ihr Geld für sinnvolle Anwendungen eingesetzt wird. Und last-not-least würden Klient:innen in der Klinik, im Heim oder zuhause profitieren, wenn digitale Pflege-Assistenzsysteme nachweislich ihre Gesundheit erhalten oder verbessern.

Die Digitalisierungs-Strategie des BMG ist sicherlich von gutem Willen geprägt. Immerhin fällt im Zusammenhang mit den erhobenen Daten auch der Begriff „Qualität“. Aber insbesondere für die Langzeitpflege bringt die Strategie mit dem Aufbau eines Kompetenzzentrums Digitalisierung voraussichtlich erst nach längerer Zeit Verbesserungen. Die wären vor allem in der ambulanten Pflege von Nöten, wo die Lage aus Ressourcen-, aber auch aus pflegefachlicher Perspektive besonders prekär ist.

Ein Praxisbeispiel in eigener Sache

Mitglieder der DGQ beschäftigen sich in einem Projekt mit einem Thema, das sektorenübergreifend wesentlich die Versorgungsqualität beeinflusst. Es handelt sich um den Informationsfluss, der im Falle der Entlassung von Menschen von einer Gesundheitseinrichtung in eine andere geschieht, der sogenannten „Überleitung“.

Diese Informationsweitergabe ist wesentlicher Teil des Entlassungsmanagements und beeinflusst maßgeblich die Versorgungsqualität. Es ist eigentlich ganz einfach: Erhält die übernehmende Einrichtung oder Einheit alle pflegerischen und auch medizinischen Daten und Informationen, welche für die lückenlose Weiterversorgung erforderlich sind, ist der Versorgungsprozess über die Schnittstelle hinaus gesichert.

Tatsächlich ist das regelmäßig nicht so, weil vor allem pflegerisch essentielle Daten bei der Überleitung lückenhaft sind oder fehlen. Die Projektgruppe der DGQ hat sich zum Ziel gesetzt, ein wirksames Instrument zu schaffen, das diese Lücke schließt, das digital verfügbar und in der Praxis nutzbar sein wird.

Anspruch und Wirklichkeit

Der Gesetzgeber hat das Problem bei der Informationsweitergabe scheinbar ebenfalls erkannt und will diesen Versorgungsprozess verbessern, indem auch die pflegerische Überleitung ab 2025 mittels der elektronischen Patientenakte (ePA) möglich sein soll.

Allerdings konstatiert der Kassenärztliche Bundesverband (kbv), der mit der Erstellung der Infrastruktur in der ePA betraut ist, dass „[…] der Überleitungsbogen nur begrenzt Grundlage einer Maßnahmenplanung sein“ kann (kbv, 2023). Warum das so ist, bleibt offen. Mit anderen Worten und überspitzt formuliert: Die Digitalisierung der pflegerischen Daten mit der Patientenakte führt nicht zwingend zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität.

Dieses Beispiel und die Erfahrungen aus vielen vorangegangenen Initiativen der Regierungen seit der Einführung der Pflegeversicherung zeigen, dass die Politik bei der Lösung der Herausforderungen in der Pflege überfordert ist. Sie hat sich zu lange von dem Glauben leiten lassen, dass es im Gesundheitsbereich eine Leitdisziplin Medizin gibt, die machtvoll genug sein müsse, um den Laden am Laufen zu halten und dabei die Versorgungsqualität hoch zu halten.

Mehr Anstrengungen für eine wirksame Digitalisierung

Bei den Herausforderungen einer immer komplexeren und digitaleren Gesundheitswelt sind die Folgen dieser Herangehensweise fatal, unter anderem weil das Medizin-Paradigma erst bei Krankheit ansetzt. Das ist teuer. Lebensqualität speist sich vor allem aus dem Faktor Gesundheit. Dieser wichtigste Qualitäts-Aspekt wird jedoch regelmäßig mit der kurzfristigen Effizienz-Karte ausgespielt. Das heißt, dass langfristig wirksames pflegerisches Handeln und Krankheitsvermeidung kaum eine Chance hat gegen kurzfristiges medizinisches Intervenieren im Krankheitsfall.

Aus der Q-Perspektive sind natürlich Effizienz und Qualität nicht trennbar. Diese Sichtweise berücksichtigt, dass nicht erst die geglückte Operation oder Krankheitsheilung die Qualität der Versorgung ausmachen, sondern die von allen Professionen getragene gemeinsame Krankheitsvermeidung und individuelle Gesunderhaltung.

Fazit: Die vorliegende Digitalisierungsstrategie löst nicht das Problem der durch Ressourcen-Mangel gefährdeten Pflege-Qualität. Es wird kein Pflegeproblem angegangen, kein Pflege-Prozess maßgeblich verbessert. Die vom BMG geweckten Erwartungen, angesichts der massiven Herausforderungen mit Personalnot und explodierenden Versorgungszahlen für Entlastung zu sorgen, werden enttäuscht.

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

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