Industrie 4.0 – und die Qualitätsaspekte?28 | 02 | 17

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Industrie 4.0, Internet of Things, Digitalisierung der Ökonomie – wir werden täglich mit Schlagworten wie diesen konfrontiert. Viele Qualitätsfachleute haben ihre eigenen Assoziationen dazu. Die DGQ-Regionalkreise diskutieren grundsätzliche Aspekte (ja, kommt auf uns zu; ja, jede Milchkuh hat einen Transponder um den Hals; ja, unsere Schraubenschütte meldet schon automatisch Bedarfe an den C-Teile-Zulieferer).

Zukunftsgerichtete Investitionsentscheidungen werden in den Betrieben getroffen, neue Leute eingestellt, Transformationsstrategien entwickelt. Aber wo kommen die Qualitätsfachleute eigentlich konkret mit diesen Aspekten in Berührung? Das hängt doch sehr von der Flughöhe der Projekte ab. Geht es um die Frage „Lasermessung statt taktiler Prüfung?“ oder um die Entscheidung „Komplett neue Prozessorganisation aufgrund Losgrößenentscheidung?“. Einen wichtigen Faktor bildet auch die Rollensituation der handelnden Personen im Einzelfall.

Also alles wie immer im QM? Die mögliche Tragweite der Veränderungen lässt eine gedankliche Neuausrichtung der Qualitätsfachleute sinnvoll erscheinen. Im Folgenden werden ein paar Beispiele von Veränderungen in Unternehmen weitererzählt, die Ansatzpunkte für die nötige (wenn auch oft noch unterlassene) Einbringung der betrieblichen Qualitätsfachleute bieten.

Ansatzpunkte aus der Praxis

Wer sich Leistungen bereitstellen lässt, muss einerseits die Einbeziehung in das QM-System sicherstellen. Andererseits müssen die Bereitsteller die nötigen Informationen erhalten. Zulieferer haben für das Eigentum des Kunden (auch seiner Daten) Sorge zu tragen. Liefern Sie bspw. eine Sondermaschine, bieten Service, Wartung und Reparatur mit an, bedeutet dies, dass sie an die Maschinensteuerung herankommen müssen. Die Kunden befürchten den Einfall von Schadsoftware oder Datenmissbrauch. Aus diesem Grund erhalten nur bewährte Partner einen Onlinezugang.

Ein Beispiel: Ein Sondermaschinenbauer aus Bergedorf hat als vertrauensbildende Maßnahme die Windows-Versionen seiner Maschinen von mehr als 600 auf die notwendigen 95 Applikationen „gehärtet“, um die Einfallstore zu begrenzen. Über den Onlinezugang zu „seinen“ Maschinen kann der Hersteller nun smart-monitoring anbieten (z. B. Vibrationserfassung zur punktgenauen Wartung vor ungeplanter Unterbrechung). Um die Servicekräfte zu entlasten, gibt es ein Operater-Guidance-System: Auf dem mobilen Schnittstellengerät zur Maschine sind typische Fehlerbilder, deren dynamisches Ranking, Video-Tutorials sowie „smarte Dokumentation“ (Handbuch, Schaltpläne, Ersatzteilkatalog) vorhanden („gespeichert“ trifft es nicht mehr, „real time“ ist da aktueller). Dies vermeidet die häufige Situation, dass mit viel Aufwand in fremder Sprache erstellte Dokumentation gefordert werden. Diese sind dann aber nicht im Änderungsdienst und nicht an der Maschine verfügbar. Stattdessen liegen sie „irgendwo im Archiv“.

Ein Anbieter für Ziehschleifmaschinen („honen“) verfährt ebenso, bekommt aber auch nach Experimenten mit UMTS/LTE („und dann steht die Maschine in Beton eingehüllt im Keller“) vom Kunden keinen Dauerzugriff per Netz. Hier hat der Anbieter dadurch Vertrauen hergestellt, dass der Maschinenkunde per „rotem Knopf“ die vorbereitete Online-Verbindung bei Bedarf selbst aufbaut. Der Lieferant erhält dagegen keinen Zugriff. Die Wartezeiten über die beiden Firmen-IT-Abteilungen („für einen VPN-Tunnel schon mal bis zu vier Stunden“) können so vermieden werden. Auch die Verbindungsüberwachung als eigene Fehlerquelle ließ sich so weitgehend ausschließen. Dieser Hontechnikanbieter begleitet die Sensorik seiner Kunden von der Frage „was passiert“ (Ausfall, Unterbrechung, Minderleistung, Ausschuss, Nacharbeit, Anlaufverluste) zur Klärung der Ursache „warum passiert es“, quasi über intelligentere OEE-Berechnungen. Eine Honspindel allein liefert allerdings 22 Signale an Sensoren. Es schafft ein jährliches Datenvolumen von 1 TB, das wiederrum zu bearbeiten gilt. Es kommt darauf an, dass die Prozesstechnologen und die Algorithmen gut aufeinander abgestimmt arbeiten. Hier gilt es, Qualitätstreiber zu analysieren. Im beschriebenen Fall hat sich die Kühlschmiermittelkonsistenz als einzig nötiger Indikator bewährt. Dieser Parameter liefert alle relevanten Informationen. Das auszuwertende Datenvolumen ließ sich somit stark begrenzen.

Virtuelle, augmented oder „reale“ Realität – Qualität ist immer gefragt

Ein Auftragsfertiger aus Holstein berichtete von der anspruchsvollen Situation in der Lieferkette. Harte Spezifikation (z. B. aus Luftfahrt, Bahnbau), Termindruck und geringe Losgröße bei Sonderanfertigungen machen den Mitarbeitern hier das Leben schwer. Bei den Fertigungsmeistern in der Arbeitsvorbereitung fließen alle Variablen zusammen („machbar bis?“, Kapa-Planung, Transportbedürfnisse, Nachorder während der Bearbeitung…). Aber genau an dieser Stelle lagen bisher keine Statusinformationen über die Produkte vor. Weder Führungskräfte noch Kunden konnten vom „Auge des Produktions-Orkans“ Daten erhalten.

Ein Blick in andere Branchen offenbarte einen interessanten Zusammenhang: „Einerseits weiß bspw. ein Großreeder jederzeit, wo sich welcher seiner Millionen Container mit welchem Inhalt befindet. Eine beliebige Luftfahrtgesellschaft kann trotz Flugzeugwechsel zuverlässig [J] feststellen, wo sich die Gepäckstücke der Passagiere befinden. Aber wir wissen nicht, wo in welchem Zustand sich einer von 300 Kundenaufträgen bei uns in der Fabrik befindet.“ Diesen Widerspruch löste das Unternehmen mit Anleihen bei eben diesen beiden genannten Branchen auf. Aufträge und Werkstücke werden nun eindeutig markiert, Bearbeitungsschritte elektronisch erfasst. Der Bearbeitungsstand ist so jederzeit erkennbar. Farbige Flächen in der Halle (grün „abholbereit“, gelb „prüfbereit“, rot „vor Bearbeitung“) werden durch ein elektronisches Orange („auf der Maschine“) ergänzt. Die Büromitarbeiter sind auskunftsfähig. Die Kapa-Planung kann nun sogar für Kunden zur Online-Ansicht geöffnet werden („wenn ich nun beauftrage, wann habe ich voraussichtlich die Ware?“). Alle Beteiligten haben den gleichen korrekten Informationsstand.

Neben „Pick by X“ (light, sound…)-Lösungen für die Werker sind in besonderen Fällen auch anspruchsvollere technische Lösungen zur Unterstützung von Mitarbeitern gefordert. Ein Hersteller von Stellmotoren aus Stormarn ermöglicht es seinen 30.000 Kunden, sich Produkte online in etwa 40 Millionen Kombinationen zu konfigurieren. Das Unternehmen vermag es, in den deutschen (und teils auch in den europäischen) Werken Mengengerüste gut abzubilden und Synergien zu nutzen. Transportnotwendigkeiten („Mittwochs fährt der Laster nach England“), Taktung der Veredelung („Die Lackierung macht heute steingrau“) und Skaleneffekte können längst anhand elektronischer Produkt-ID gesteuert werden. Die Niederlassung in Australien beschäftigt jedoch genau drei technisch ausgebildete Fachleute. Diese Mitarbeiter kennen nicht jede Montage auswendig. Daher ist die Dokumentation der Stellmotoren so ausgelegt worden, dass sie  künftig mit AR-Brillen schrittweise den Montagevorgang begleitet.

Der gemeinsame Zugriff auf real-time Daten ermöglicht auch rapid-prototyping in additiven Verfahren. Stehen die Konstruktionsdaten in üblichen CAD-Formaten zur Verfügung, können Konstrukteure Produktwünsche der Kunden per additiver Fertigung aus dem 3D-Drucker schnellstmöglich begleiten. Die Kunststoffteile sind sehr viel schneller und günstiger herzustellen, als spanabhebend gewonnene Stücke. Die Laufzeit reicht zwar gerade für ein minutenlanges Ausprobieren, aber der Entwicklungsaufwand sinkt rapide. Erst wenn die Daten „kunststoff-validiert“ feststehen, werden die Aufträge an die Metallbearbeitung gegeben. Das ist bspw. bei einem Hersteller von Tabaktechnologie wichtig, wenn bei seiner Maschine, die 20.000 Zigaretten pro Minute fertigt, die Filter auf spontanen Kundenwunsch, z. B. aus Asien, ein „herzförmiges Luftloch“ erhalten sollen. Jede Sekunde Stillstand entspricht 330 Zigaretten.

3D-Druck spielt auch bei Hohlkörpern in der Pneumatik eine entscheidende Rolle. Drehen und Fräsen ist achsengebunden. Jede sanfte Kurve bedeutet schon eine technische Herausforderung. Komplexe Gasführungen müssen daher oft aus vielen einzelnen Bauteilen mit engsten Toleranzen zusammengefügt werden. In additiver Fertigung kann praktisch jedweder Hohlkörper hergestellt werden. Auch der Formenbau lässt sich so erheblich effektiver (z.B. strömungsgünstiger) und effizienter gestalten.

Hat das mit Ihrer Arbeit als Qualitätsfachmann zu tun?

Hoffentlich konnten wir einige gedankliche Ansatzpunkte für Ihre Arbeit aufzeigen. Nein, nicht so direkt? Dann streichen Sie im Folgenden einfach (wie bei einem Silbenrätsel) die Normenpunkte der ISO 9001 aus, die ihrer Meinung nach in den Beispielen nicht berührt wurden.

Kontext der Organisation – Verstehen der Erfordernisse und Erwartungen interessierter Parteien – Festlegen des Anwendungsbereichs des Qualitätsmanagementsystems – Qualitätsmanagementsystem und dessen Prozesse – Führung – Qualitätspolitik – Rollen, Verantwortlichkeiten und Befugnisse – Planung – Umgang mit Risiken und Chancen – Qualitätsziele – Änderungen – Ressourcen – Personen – Infrastruktur – Umgebung zur Durchführung von Prozessen – Ressourcen zur Überwachung und Messung – Wissen der Organisation – Kompetenz – Bewusstsein – Kommunikation – Dokumentierte Information – Betriebliche Planung und Steuerung – Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen – Kommunikation mit den Kunden – Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen – Kontrolle von extern bereitgestellten Produkten und Dienstleistungen – Produktion und Dienstleistungserbringung – Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit – Eigentum der Kunden oder der externen Anbieter – Erhaltung – Tätigkeiten nach der Lieferung – Überwachung von Änderungen – Steuerung nichtkonformer Prozessergebnisse, Produkte und Dienstleistungen – Bewertung der Leistung – Überwachung, Messung, Analyse und Bewertung – Kundenzufriedenheit – Internes Audit – Managementbewertung – Verbesserung – Nichtkonformität und Korrekturmaßnahmen

Na, dann…

 

 

 

Über den Autor: Kai-Uwe Behrends

Kai-Uwe Behrends ist seit 2005 Leiter der DGQ-Landesgeschäftsstelle Nord in Hamburg. Vorher war der studierte Diplom-Volkswirt und -Sozialökonom Fachbereichsleiter und Qualitätsmanagement-Beauftragter einer Bildungseinrichtung mit 100 Mitarbeitern. Er ist Auditleiter der DQS für ISO 9001 und AZAV.

kb@dgq.de 0 40 85 33 78-60

Ein Kommentar bei “Industrie 4.0 – und die Qualitätsaspekte?”

  1. 46d9c42fd9ff8cf0be3a121918677dfe Leon P. sagt:

    Eine zentrale Aussage des Artikels möchte ich nochmals erwähnen und kurz darauf eingehen. Denn es wurde was ganz Fundamentales herausgearbeitet.

    „Virtuelle, augmented oder „reale“ Realität – Qualität ist immer gefragt“ (Direktes Zitat aus dem Text).

    Nur weil neue Prozesse und Entwicklungen verschmelzen und neue Gebiete sich erschließen, heißt das nicht, dass Qualität keinen Stellenwert mehr hat. Denn „(…)Qualität ist immer gefragt“. Qualität gibt dem Käufer die Sicherheit, die er braucht um eine Investition oder Kauf zu tätigen. Qualität sichert ab, dass das was wir machen auch am Ende qualitativ gut wird. Qualität ist ein Verkaufsargument. Wer qualitativ hochwertige Produkte anbietet, hat höhere Chancen am Markt sich längerfristig zu etablieren. In meinen Augen ist vor allem in der Industrie Qualität von hoher Wichtigkeit! Egal ob es nur eine kleine Schraube ist oder eine Gleitplatte, wie diese hier… Nur wenn ein Industriebetrieb mit qualitativ hochwertigen Produkten arbeitet, kann am Ende ein qualitativ hochwertiges Endprodukt entstehen. So sind auch international „Made in Germany“-Produkte sehr angesehen, da viele mit diesem Slogan Qualität verbinden. Qualität hat natürlich seinen Preis, doch in vielen Fällen zahlt sich eine höhere Investition aus.

    Vielen Dank für den ausführlichen und aufschlussreichen Artikel.
    Freundliche Grüße.

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