Warum verordnetes Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen nicht ausreichend wirkt28 | 01 | 21

Im Sozial- und Gesundheitswesen wurden früh Qualitätsmanagementansätze implementiert, die „aus der Industrie“ kamen und sich dort bewährt hatten. Die grundlegende Andersartigkeit sozialer und Gesundheitsleistungen am Menschen und der Organisationen, die sie erbringen, fand und findet auch heute dabei noch viel zu wenig Berücksichtigung.

Ich möchte vier Thesen aufstellen, die die Andersartigkeit aufzeigen und, wenn sie zutreffen, dabei helfen können, zu überlegen, an welchen Stellen wir ansetzen können, die Akzeptanz und Wirksamkeit des Qualitätsmanagements in Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens zu verbessern.

 

Erste These: Das Kosten-Qualität-Dilemma
Bis zu einem gewissen Grad kann Kosten- und somit Ressourceneinsparung mit Qualitätsverbesserung einhergehen. Dann sinkt die Qualität mit zunehmender Ressourcenreduktion. Geht die Reduktion zu weit, besteht die Gefahr, die Mindestqualität zu unterschreiten.

Es gibt zwei Modi der Verbesserung: zum einen die ressourcenneutrale Qualitätsoptimierung, zum anderen die qualitätsneutrale Ressourcenoptimierung. Kostensenkung und Qualitätsverbesserung gehen dann und dort zusammen, wo wir qualitätsrelevante Verschwendung reduzieren. Sind aber Blind- und Fehlleistung minimiert sowie die Effizienz maximiert, ist ein Kipppunkt erreicht und eine weitere Reduktion von Kosten führt zur Reduktion der Anzahl oder Qualität der Ressourcen. Es stehen weniger oder schlechter qualifiziertes Personal, weniger oder schlechtere Sachmittel zur Verfügung. Das wiederum verringert typischerweise die Ergebnisqualität. Im Sozial- und Gesundheitswesen wird an manchen Stellen im Zuge extern verordneter Ressourceneinsparung auch das Mindestqualitätsniveau unterschritten.

 

Zweite These: Das Professionendilemma
Die Dominanz einzelner Professionen erschwert oder verhindert systemisches Qualitätsmanagement in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens.

Die allermeisten Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens sind professionsgeprägt. Das heißt eine starke Profession dominiert über andere zur Leistungserbringung relevante, aber im Vergleich schwache, Professionen. Die starken Professionen (z. B. Ärzte) sehen sich durch systemische Qualitätsmanagementansätze darin bevormundet, klientenindividuelle, kompetenzbasierte Qualitätsentscheidungen zu treffen. Die schwachen Professionen (z. B. Pflegepersonal) können im System ihre Belange und Kompetenzen oft nicht angemessen einbringen. Beide hadern in Folge dessen mit dem QM-System, manche wehren sich passiv oder gar aktiv dagegen.

 

Dritte These: Das Objektivitätsdilemma
Der Abstand des theoriebasierten objektiven Wissens zur Empathie getriebenen subjektiven Wirklichkeit der Professionen und Klienten im Gesundheits- und Sozialbereich erzeugt eine Theorie-Praxis-Lücke.

Qualitätsmanagementsysteme folgen einem Organisationsverständnis, das funktional und effizienzgeleitet ist. Es rückt objektive Faktoren und Kriterien in den Fokus. Soziale Realitäten erfordern weit mehr. Das gilt in allen Organisationen, doch in der Dienstleistung am Menschen ist das von besonderer Relevanz und Wirkung. Die Individualität menschlicher Beziehungen, das soziale Netzwerk und die soziale Teilhabe sind schwer messbar, machen aber deren Qualität aus. Diese Qualität äußert sich in Subjektivität, Individualität und unzureichend validierbaren Größen wie individueller Lebensqualität. Emphatische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen oft intuitiv, was für einen konkreten Menschen zu tun ist, die Objektivität fordernden Systeme können damit kaum umgehen. Das Gesundheits- und Sozialwesen wird durch diese sozialen Realitäten geformt.

Sowohl in den regelgebenden politischen und Verbandsgremien als auch in den organisationinternen Systemkonzepten überwiegen meist theoretische, objektive über praktische, subjektive Erwägungen. Sie prägen somit mittelbar und unmittelbar die Qualitätsmanagementsysteme und ihre Akzeptanz und Wirksamkeit.

 

Vierte These: Das Überformalisierungsdilemma
Massive Überreglementierung und daraus resultierende Überformalisierung erzeugen Zielkonflikte und Dysfunktionalitäten, die Mitarbeiter in die „brauchbare Illegalität“ treiben, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Selbst wenn jede einzelne externe Vorgabe aus lauteren Motiven und in der Erwartung positiver Effekte auf die Leistungsqualität oder Ressourceneffizienz erfolgt, ist in Summe längst ein nicht mehr erfüllbares Konglomerat zum Teil widersprüchlicher und dysfunktionaler Regeln aus vielen verschiedenen Quellen und zu vielen unterschiedlichen Themen entstanden. Oft verstärkt interne Überformalisierung noch die externe Überreglementierung, weil Managementsystembeauftragte „auf Nummer sicher“ gehen wollen.

Leitungen und Führungskräfte können oder wollen viele der resultierenden Zielkonflikte und Dysfunktionalitäten nicht auflösen, sprechen sie oft nicht an oder negieren oder verharmlosen ihre Existenz und ihre Konsequenzen. Oft ist es ihr aktives Wegschauen, dass die „brauchbare Illegalität“ begünstigt, wissend und sich darauf verlassend, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eigenes Risiko lösen, was zu lösen ist. Davon profitieren sehr oft die Klienten und die Organisation kann trotz aller Widersprüche im Alltag funktionieren. Doch das Beugen und Brechen von Regeln nimmt auch das direkte Risiko in Kauf, Klienten zu schädigen und das indirekte, für den Regelbruch bestraft zu werden. Die formalen (Qualitäts)Managementsysteme ignorieren diesen Mechanismus weitgehend, Audits decken das Dunkelfeld der brauchbaren Illegalität nicht auf. So erfolgt eine Sozialisation zum Regelbruch, die die Akzeptanz und Wirksamkeit der eigenen Regelsysteme, unter anderem des Qualitätsmanagementsystems, nachhaltig untergräbt.

Hier und jetzt möchte ich noch gar nicht über konkrete Lösungsansätze sprechen, die sich aus diesen Betrachtungen ableiten lassen. Vielmehr möchte ich Kolleginnen und Kollegen aus Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens die folgenden Fragen stellen:

  • Sind dies Dilemmata, die Sie in ihren Organisationen auch erkennen? Wie äußern sie sich konkret im Alltag?
  • Sind dies Themen und Erklärungen, die Sie bereits im Blick haben und die in Ihrer Analyse bereits Berücksichtigung finden? Oder kommen hier für Sie neue Facetten ins Spiel, die uns vielleicht auch zu neuen Lösungsräumen und neuartigen Lösungen führen könnten?

Am 4. März werden mein Kollege Holger Dudel, Fachreferent Pflege der DGQ, und ich dieses Thema in einem mitgliederexklusiven Webinar vertiefen und weiterführen. Die Anmeldemöglichkeit für Mitglieder erfolgt in Kürze. Sollten Sie noch kein DGQ-Mitglied sein, haben Sie hier die Möglichkeit, sich kostenfrei für drei Monate zur Schnuppermitgliedschaft anzumelden und erhalten im Anschluss alle Details zum Webinar. Bis dahin freuen wir uns auf Ihr Feedback.

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

Comments are closed.