Vergessen Sie’s! – Ständiges Wachstum28 | 04 | 20

Die Versuchung ist groß zu sagen, dies seien insgesamt Zeiten zum Vergessen, doch das wäre eine unverzeihliche Verschwendung. Was wir jetzt lernen und erfahren wird sehr wertvoll für uns sein. Dabei ist mir schmerzlich bewusst, dass die vielen, die jetzt gesundheitlich und wirtschaftlich bedroht und bereits getroffen sind, auf diese Erfahrung wohl gut hätten verzichten können.

Krisen sind Trendverstärker. Wir erleben gerade, dass wir selbst aktiv den Wandel beschleunigen: den Wandel zu mehr Digitalisierung, zur Online-Kollaboration, zu digitalen Produkten und Prozessen. Den Wandel zum funktionierenden Homeoffice, zum Arbeiten ohne Dienstreisen, mit weniger Meetings. Den Wandel zu mehr Müßiggang, zum Spazierengehen, zum Schwatz am Zaun, zum Brettspiel mit den Kindern. Den Wandel zu mehr Achtsamkeit, zur Wertschätzung für Alltägliches, zur Achtung für Menschen in systemrelevanten aber prekären Berufen. Und nicht zuletzt den Wandel  vom Immer-Mehr zum Genug, den Wandel von ständigem Wachstum zu – ja zu was eigentlich?

Bevor wir unsere Wachstumsgeschichte einfach nur mit neuartigen Produkten und Geschäftsmodellen fortsetzen, können wir aus der Qualitätsperspektive heraus durchaus einmal einen kritischen Blick auf das Thema Wachstum richten. Mehrere Kollektionswechsel im Jahr bei Kleidung, billigst und häufig unter menschenunwürdigen Bedingungen gefertigt, die wir nicht oder kaum tragen und die nach dreimaligem Waschen die Fasson verliert. Lebensmittel minderer Qualität aber mit glänzender Hülle, mit 50% Schwund von Acker und Stall bis zur Mülltonne. Rekordrückrufzahlen bei Automobilen, verstopfte Straßen, fehlende Parkplätze, Nutzungsgrade eines Automobils von nur wenigen Prozent. Oft sind unsere Produkte mehr Schein als Sein, eine Verschwendung von Ressourcen, da sie von vielen nicht oder kaum gebraucht werden. Aber es gilt: Wachstum, Wachstum, Wachstum.

Jetzt, in der Pandemie, kochen wir wieder selbst, machen nicht jeden Kollektionswechsel mit, machen weniger Fahrten, entrümpeln Keller und Dachböden und finden Unmengen an Zeug, das entsorgt werden kann. Zeug und Zeugen der Wachstumsgeschichten von Unternehmen, jetzt Sperrmüll, Sondermüll, kondensierte verschwendete Ressource. Natürlich verlieren und vermissen wir auch vieles. Uns wird aber an vielen Stellen auch bewusst, wie leichtfertig wir im Überfluss gelebt haben und dass er uns auch schadet.

Dem maßlosen Konsum steht auf Unternehmensseite das maßlose Wachstumsstreben entgegen, beide bedingen sich gegenseitig. Dabei kann auch die Qualität auf der Strecke bleiben. Es entstehen immer wieder Produkte, die man zwar verkaufen kann, die aber kaum oder gar nicht genutzt werden. Statt Qualität erzeugen wir oft eine Pseudoqualität. Wir überfrachten komplexe Produkte mit Funktionen, die kaum jemand nutzt.

In welchem Kontext steht das zur Pandemie und zu dem Wandel, der ohne sie schon begonnen hatte? Die Pandemie fördert das Hinterfragen unseres bisherigen Tuns, führt uns Dysfunktionalitäten unserer bisherigen Wachstumslogik hart vor Augen. Und ohnehin steckt unsere Wirtschaft bereits im disruptiven Wandel der vierten industriellen Revolution. Für einige klassische Geschäftsfelder und Produkte heißt das, das Ende ist nah. Doch wie beendet man etwas gut und startet daraufhin etwas Besseres neu? Kann das überhaupt gelingen? Und was hat das mit Qualität und Qualitätsmanagement zu tun?

Werden wir bei den neuen Produkten und Dienstleistungen, die wir jetzt entwickeln,
auf Nachhaltigkeit statt Ressourcenverschwendung,
auf Maß statt Wachstum,
auf gesundes statt krankes Wachstum
achten?

Wir im QM waren und sind nicht gut und erfahren im disruptiven Wandel, in der rigorosen Veränderung. Unser Handeln war auf Stabilisierung und Verbesserung von Bestehendem ausgerichtet, völlig zurecht, denn das war über Jahrzehnte angemessen und zielführend, auch unter dem lange nicht ernsthaft hinterfragten Wachstumsparadigma. Nun entstehen Startups und auch in vielen Unternehmen Startup-Situationen und Startup-Settings. Und es fällt uns schwer, mit bestehenden Methoden und Prinzipien die neuartigen Produkte qualitätszusichern und die neuartigen Managementsysteme qualitätszumanagen. Das Pendant zum kontinuierlichen Wachstum ist im QM die kontinuierliche Verbesserung. Nun müssen wir aber lernen, auch diskontinuierlich zu erschaffen statt kontinuierlich zu verbessern. Sind wir bereit, Qualität für das, was nun neu entsteht, neu zu denken? Denn ein neues Qualitätsverständnis prägt die Startups: das Minimum Viable Product (MVP), das minimal lebensfähige Produkt, ist der neue Qualitätsbegriff der agilen Entwickler. Auch das MVP wird verbessert, es muss am Kunden gereift werden. Das erfordert allerdings ein anderes Vorgehen, als reife Produkte zu verbessern.

Vergessen Sie, zumindest für eine ausreichend lange Weile, den Fetisch ständigen Wachstums und das Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung. Das schafft Raum für neue Konzepte, die mehr Qualität, weniger Ressourcenverschwendung und im Ergebnis mehr Lebensqualität ermöglichen. Wenn schon gerade mehr Disruption herrscht, als sich selbst die Veränderungsaffinen gewünscht haben, dann lassen Sie uns Qualitätsbestrebte sie immerhin zum Guten nutzen.

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

8 Kommentare bei “Vergessen Sie’s! – Ständiges Wachstum”

  1. Hallo Benedikt, vielen Dank für diesen hervorragenden Beitrag. Du sprichst mir, einem Menschen der sich schon immer in seinem Berufsleben mit Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat, aus dem Herzen. Ein wesentlicher Baustein in der Nachhaltigkeit ist, ein Geschäftsmodell (inkl. Produkte) so auszurichten, dass eine solide Basis für ein ständiges Auskommen sicher gestellt wird. Daraus ergeben sich in Verbindung mit Nachhaltigkeit drei Kernfragen die es zu beantworten gilt:

    – Wie kann ein Unternehmen durch seine Aktivitäten absolut verursachte Umweltbelastungen reduzieren?
    – Wie können sozial unerwünschte Wirkungen, die von einem Unternehmen ausgehen, minimiert werden?
    – Wie können Umweltschutz und Sozialengagement kostengünstig , rentabilitäts- und unternehmenswertsteigernd umgesetzt werden?

    Unternehmen folgen den Ansprüchen der Kunden, oder richtiger betrachtet beeinflussen Kunden die Richtung die gegangen werden muss. Ich denke hier nur an die „Geiz ist geil Mentalität“. Diese Zeiten sind schon lange vorbei, nur müssen wir Konsumenten das verstehen. Dann kaufen wir auch wieder hochwertigere Produkte, sofern es diese noch gibt. Ich komme aus einer Welt, in der nachhaltige Produkte hergestellt werden. Diese Welt wurde durch Dieter Rams (Industriedesigner) geprägt. 1987 hat bereits folgendes Statement abgegeben: „Die Ära der Üppigkeit und Verschwendung ist zu Ende“. Bitte beachten: 1987 wurde diese Aussage getroffen.
    Nachhaltigkeit beginnt somit mit einem zeitlosen Design. Gefolgt mit entsprechend hochwertigem technischen Inhalt. Alles zusammen auf Langlebigkeit ausgelegt. Diesem Grundsatz folgt dann auch die Entwicklung von Produktionseinrichtungen, welche ebenfalls auf Langlebigkeit ausgelegt werden. Insgesamt reden wir über eine neue (alte) Definition von Qualität. Weg von einem „Trend“ orientiertem Konsum zu einem qualitätsorientiertem Konsumverhalten. Das bedingt jedoch, dass wir als Konsumenten bereit sein müssen ggf. mehr Geld für ein qualitativ hochwertiges Produkt auszugeben bzw. nicht jeden modischen/technischen Trend mitmachen zu müssen.

  2. f4f0570db6ebe6448e5306fba6e995f7 Peter Sasahara sagt:

    Was halten Sie davon:
    1. APQP mit letztem Meilenstein = MVP
    2. Diskontinuierliche Verbesserungen mit dem Kunden per SCRUM
    3. Bei den APQP Meilensteinen müssen verbindliche Nachhaltigkeitsziele gesetzt werden und darüber hinaus Überlegungen zur Kreislaufwirtschaft einfließen.

    1. 7f73d6f7905b77364eb75cf28b745fd4 Benedikt Sommerhoff sagt:

      Klingt durchdacht und damit gut für mich. Verkürzter, verschlankter APQP? Wie für so vieles gilt auch hier, ausprobieren und Erfahrungen mit dem Vorgehen sammeln.

  3. Pasqual Jahns sagt:

    Mir stellt sich beim Lesen des Artikels die Frage, ob ein MVP tatsächlich zur Nachhaltigkeit des Konsums beiträgt. Ich habe eher die Vermutung, dass lauter jedenfalls teilweise unnütze neue Produkte entwickelt werden und diese dann auch recht schnell wieder vom Markt verschwinden, aber natürlich trotzdem Ressourcen verbraucht haben. Ich stütze meine Vermutung darauf das ja auch die meisten Start-Ups nicht wirklich lange durchhalten.

    Aus Sicht sollte man sich vielleicht eher die Frage stellen wieso ein Kunde ein bestimmtes Konsumverhalten hat (z.B. Ersatzbefriedigung bei Fashion) und dann schauen ob man dieses Bedürfnis nicht auch anders befriedigen kann – wäre schon irgendwie cool wenn man ein Abo kaufen könnte und die Klamotten würden jeden Monat ihr Design automatisch verändern, oder? 🙂

    1. 7f73d6f7905b77364eb75cf28b745fd4 Benedikt Sommerhoff sagt:

      Ivch denke nicht, dass das MVP Konzept per se zur Nachhaltigkeit beiträgt. ich sehe nur, dass mehr und mehr so entsteht. Deshalb müssen wir nun auch dafür einen nachhaltigen Umgang damit finden. Und was das Konsumverhalten angeht, das scheint ja recht stabilen Verhaltensmustern zu folgen. Dazu finde ich interessant, die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik stärker zu nutzen. Dort haben Okonomen (wie Richard Thaler) und Phsychologen (wie Dabiel Kahneman, beide Wirtschaftsnobelpreisträger) bedeutende Erkenntnisse beigesteuert. Daraus sind auch Konzepte wie das Nudging (Thaler) entstanden, Versuche, bestimmte Verhaltenweisen zu stimulieren oder zu erschweren.

  4. So ist es und dieser anstupseffekt wird zunehmend genutzt und missbraucht ! In meiner Masterarbeit Im 2018 habe ich dies “Aufmerksamkeitsdiebstahl” benannt und auf die Wirkung undRisiken hi gewiesen bei übermäßiger Nutzung !!!!
    Das waere eine separate online session wert sich darüber auszutauschen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Und besten Dank für deinen Input. Freue mich auf eine persönliche Reaktionen aus meinem Netzwerk, Leute haut rein !!! Macht einfach #lets go connected

    1. 7f73d6f7905b77364eb75cf28b745fd4 Benedikt Sommerhoff sagt:

      Aufmerksamkeitsdiebstahl ist ein interessanter Begriff. In die Masterarbeit würde ich gerne einmal einen Blick werfen.

  5. 7f8240719a96a4e87fc578618071e0bc Jürgen Koch sagt:

    In Zeiten des Wandels und der Corona-Krise benötigen wird m. E. Erkenntnismodelle, die über standardisierte Qualitätsmanagementsysteme hinausgehen. Als Beispiel sei ein zirkulärer Erkenntnisprozess genannt, der sich wie folgt, darstellt:
    Qualitätsansatz – Qualitätsdenken – Qualitätswandel – Qualitätskonzept – Qualitätstransformation.
    Der qualitative Erkenntnisprozess kann als philosophische Erkenntnis, als interdisziplinäres System, transdisziplinäre Evolution, wissenschaftstheoretische Revolution (Paradigma) dargestellt werden. Beispiele sind:
    Qualitätsansatz
    Angestrebt wird ein erhöhtes Erkenntnisniveau, das auf einen philosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Ansatz beruht, der insbesondere von einem biologischen Welt- und Menschenbild ausgeht, wie es sich in der Wissenschaft derzeit darstellt.
    Qualitätsdenken
    Das (qualitative) zirkuläre Denken besteht im weitesten Sinne aus Erkennen, Ordnen, Entscheiden und Handeln und erweitert damit das kausale Denken, das aus Ursache und Wirkung besteht.
    Das Qualitätsdenken muss über die Grenzen der klassischen Physik und des rationalen Denkens des Homo oeconomicus hinausgehen, die bisher, zumindest in Teilen der Gesellschaft, als Weltbild gesehen werden. Das Qualitätsdenken ist ein Denken „Out of the box“ und umfasst insbesondere das Denken in kognitiven, komplexen adaptiven Systemen und genetischer und kultureller Evolution, vor dem Hintergrund eines systemischen und eines revolutionären Paradigmas.
    Die Systeme werden als lebende (organismische, virale) Systeme und als Ganzheit (entsprechend dem Holismus) und Konstrukt (entsprechend dem Konstruktivismus) aufgefasst, wie es die wissenschaftliche Interpretation des Bewusstseins von Menschen derzeit zulässt.

    Qualitätskonzept
    Das strategische (langfristige) Konzept mit Leitlinien, Vision und Mission ist – wegen der (Über-) Lebens-Problematik vorrangig evolutionär auszurichten, kann aber, unabhängig von der evolutionären Perspektive, auch revolutionäre und disruptive Interventionen einschließen, wobei insbesondere deren Ambivalenzen zu beachten sind.
    Die evolutionäre Sicht der Dinge orientiert sich am (Über-) Leben des Systems, z.B. eines Unternehmens oder einer Institution. Demgegenüber orientieren sich revolutionäre und disruptive Interventionen vorrangig an ökonomischen Zielsetzungen.
    Neuere Betrachtungsweisen unterscheiden zwischen zwei Problemlösungsmodellen:
    1. Lebensmodelle mit der Zielperspektive: Resilienz & Robustheit (langfristig am Überleben, z.B. eines Unternehmens, orientiert)
    2. Geschäftsmodelle (reduktionistische) Modelle mit (materieller) Sicherheit & (akzeptablen) Risiko (kurzfristiger orientiert).
    Beide Konzepte können als Qualitätskonzepte angesehen werden.
    Das Dilemma des Qualitätsmanagements wurde bei der Fleischfabrik Tönnies offensichtlich, denn dort war weder ein angemessenes Welt- und Menschenbild der Führung vorhanden noch ein (Über-) Lebenssystem ins Visier genommen worden.
    Vielleicht lässt sich in einem eigenen Blog die Diskussion fortsetzen.

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