Stochern im Future-Skills-Nebel?23 | 09 | 22
Die Zukunft bleibt ungewiss – auch was erforderliche Kompetenzen angeht. In besonderem Maße gilt dies für Branchen, an die besondere gesellschaftliche Anforderungen gestellt werden.
Dr. Andreas Ogrinz, Geschäftsführer Bildung, Innovation, Nachhaltigkeit beim Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. (BAVC), plädiert bei der Frage künftig benötigter Kompetenzen für Demut, stellt aber auch zwei Tools vor, die für die Chemiebranche eine gewisse Orientierung bieten können.
Wieso redet alle Welt über „Weiterbildung“, wenn es um die Arbeitswelt der Zukunft geht? Ganz einfach: weil wir uns nicht vorstellen können, wie die gewaltige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, in der wir uns befinden, ohne Weiterbildung gelingen kann: Eine neue Art zu wirtschaften, ja vielleicht sogar eine neue Art, Antworten auf die uralte Frage nach dem „guten Leben“ zu finden, erfordert neue Kompetenzen! Erst müssen wir wissen, woraufhin wir weiterbilden wollen – dann können wir uns mit der Weiterbildung selbst beschäftigen. Leider wird dieser logische Zwischenschritt häufig vergessen oder übergangen. Er ist aber entscheidend, damit Weiterbildung – und Weiterbildungspolitik – nicht aktionistisch ins Leere läuft.
Chemisch-pharmazeutische Industrie im Umbruch
Ich lege das Thema jetzt mal einen Gang tiefer und zoome in eine Branche hinein, die massiv von dem betroffen ist, was heute meist „Transformation“ genannt wird: die chemisch-pharmazeutische Industrie. Wir stehen vor der historisch beispiellosen Aufgabe, uns als Industrie – also was unsere Produktionsweise selbst anlangt – neu zu erfinden. Treibhausgasneutralität für eine treibhausgasintensive Branche, die Einführung einer zirkulären Wirtschaft, in der unsere Branche eine Schlüsselrolle spielen wird, eine europäische Chemikalienpolitik, die einen großen Teil von Stoffen, die wir herstellen, schlicht verbieten wird und gleichzeitig eine steigende Nachfrage der Gesellschaft nach nachhaltigen Produkten: Wir sind gefordert wie nie, sollen in vieler Hinsicht „Lösungsindustrie“ sein – die Transformation ist gewaltig! Und von anderen Veränderungstreibern spreche ich jetzt gar nicht: Digitalisierung, demografischer Wandel, geopolitische Verwerfungen wie der Ukraine-Krieg usw. usf.
Veränderung braucht Veränderungsbereitschaft – und die richtigen Kompetenzen
Was heißt das jetzt mit Blick auf unser Thema? Wenn sich die Welt so schnell und so tiefgreifend verändert wie zurzeit, wenn sich eine ganze Industrie quasi neu erfinden muss, dann müssen sich auch die Menschen, die in dieser Industrie tätig sind, verändern. Veränderung heißt einerseits: mentale Veränderung. Nur mit möglichst vielen Menschen, die sich auf die große Transformation einlassen, die die Bereitschaft haben, an sich zu arbeiten, kann diese Veränderung gelingen. Hier spielen Führungskräfte als Inspiratoren, Motivatorinnen und Visionäre eine zentrale Rolle. Neben der mentalen Veränderung geht es aber – andererseits – um den immer wieder neuen Kompetenzerwerb. Denn ohne die richtigen Kompetenzen kann ein Unternehmen nicht innovativ und damit nicht wettbewerbsfähig sein. Ausruhen auf irgendwelchen Lorbeeren der Vergangenheit reicht nicht!
Den Stein der Weisen gibt es nicht …
Wenn ich mir diese Zusammenhänge vergegenwärtige, verfalle ich stets in eine Haltung der Demut. Wie soll man denn wissen, was man künftig können muss? Das hängt doch von künftig gefragten Produkten und Geschäftsmodellen ab, die ihrerseits von Märkten abhängen, die wiederum globaler Natur sind. Vor diesem Hintergrund weiß doch kein Mensch – und auch keine KI –, was Beschäftigte in global tätigen Unternehmen künftig können müssen. Der Stein der Weisen war, ist und bleibt ein unerfüllbares Objekt menschlicher Sehnsucht.
… Orientierung für die Unternehmen sehr wohl!
Und doch können wir etwas tun! Ungewissheit verlangt nach Orientierung. Diese versuchen wir als Arbeitgeberverband zu geben. Wir sind davon überzeugt, dass wir die Unternehmen dabei unterstützen können, die Wirklichkeit wenigstens besser zu erfassen und ein bisschen besser abzusehen, wie die Zukunft aussieht. Konkret: Wir befähigen unsere Unternehmen, die bei ihnen vorhandenen Kompetenzen besser abzubilden und abzugleichen mit Kompetenztrends, die wir auf Branchenebene aufzeigen können.
Die halbe Miete: Überblick über vorhandene Kompetenzen im Unternehmen
Dieses Befähigungsangebot ist Teil der so genannten „Qualifizierungsoffensive Chemie“, die wir Ende 2019 mit unserem Sozialpartner, der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), in einem Tarifvertrag verabredet haben. Ein Element dieser Offensive nennt sich „PYTHIA Chemie“. Ich gebe zu: Der Name – Pythia war die weissagende Priesterin im Orakel Delphi – ist hochgegriffen. Aber das Tool hat es in sich: Es erlaubt, die in einem Betrieb vorhandenen Qualifikationen nach so genannten Jobgruppen abzubilden – und das im Zeitablauf, sodass Personalverantwortliche sehen können, wie sich ihre Belegschaft in den kommenden Jahren qualifikatorisch und rein zahlenmäßig entwickelt. PYTHIA Chemie ist ein Beitrag zur strategischen Personalplanung – angeboten auf Branchenebene, zum Nutzen der Unternehmen.
Personalplanung mit Weitblick: Kompetenztrends und der Future Skills Report Chemie
Das zweite Element, auf das ich Sie gerne hinweisen möchte, ist der „Future Skills Report Chemie“. Für diesen Bericht wurden mehr als 200.000 chemiespezifische Stellenanzeigen global und mithilfe von Künstlicher Intelligenz analysiert – und daraus Trendaussagen für Kompetenzen und Berufsbilder abgeleitet, die für unsere Branche relevant sind. Da kam zum Beispiel heraus, dass bereits in einem Viertel aller untersuchten Stellenanzeigen die Kompetenz „Data Science & Analytics“ gefordert wird – und das in einer Produktionsbranche! Oder dass der Chemie-Standort Deutschland bei bestimmten Kompetenztrends, zum Beispiel „Materialwissenschaften“ oder „Automatisierung & Robotik“, global führend ist. Aber auch, dass der Funktionsbereich „Verwaltung“ in den Unternehmen unserer Branche zurzeit an Bedeutung verliert.
Sowohl bei der handfesten Erfassung aktuell vorhandener Kompetenzen im Unternehmen als auch mit Blick auf globale Kompetenztrends, die das Wettbewerbsumfeld der Unternehmen bestimmen, können wir also etwas auf Branchenebene anbieten. Nicht den Stein der Weisen, aber Tools, die Orientierung geben, die den Personalverantwortlichen fundiertere Entscheidungen ermöglichen.
Wir können also durchaus einiges tun, um die Zukunft besser zu „händeln“, wie es neudeutsch heißt. Die Zukunft samt künftiger Konsumgewohnheiten, technologischer Innovationen und Marktbedingungen vorhersehen können wir aber nicht. Das legt eine Haltung der Demut nahe, die nach meiner Überzeugung auch politisch gelten muss: Manchmal ist das Begleiten, das Nachsteuern, das behutsame Unterstützen sinnvoller als „große Würfe“ wie „Nationale Weiterbildungsstrategien“ oder große Plattformprojekte wetteifernder Ministerien. Ich halte es da mit dem großen Philosophen Karl Popper: Statt – wie er das mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes getan hat – das Heil in „großen Würfen“ zu suchen, sollte Veränderung in kleinen Schritten, von der Intelligenz der vielen, auch der vielen Unternehmen her, gedacht werden – als „piecemeal social engineering“, wie er das genannt hat. Also: Viele kleine kluge Schritte statt gigantischer Weiterbildungsprogramme führen in die Arbeitswelt der Zukunft!