So sieht’s aus: Die fachliche, juristische und moralische Dimension der Qualität20 | 05 | 21
In dieser Blogserie geht es darum, Inhalte zu vermitteln und dabei die Kraft von Grafiken für die Kommunikation und den Erkenntnisgewinn zu nutzen. Ein Visualisierungsansatz ist mir noch aus der Mengenlehre vertraut (Grundschule in NRW in den 70ern!): die Bildung von Mengen und Teilmengen. Mit ihm möchte ich hier ein Thema vertiefen, das uns zurzeit intensiv beschäftigt. Es ist die Frage: Was ist Qualität? In den letzten Monaten gab es in diesem Blog und in der QZ dazu eine spannende und kontroverse Diskussion, an der sich viele Kommentatoren beteiligt haben.
Ich gebe zu, ich hatte mich an der etablierten ISO Definition von Qualität (inhärent, Merkmale, Anforderungen,…) gestoßen, weil sie aus meiner Sicht qualitätsrelevante Facetten nicht angemessen berücksichtigt. Und sie deshalb in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion über Qualität nicht ausreicht. Insbesondere hatte ich mich daran gestört, dass im Rahmen der ISO Definition auch als Qualität gelten darf, was sozial, ökologisch und ökonomisch schädlich ist, solange es nur die oft unzulänglichen formalen Anforderungen erfüllt (siehe Beitrag zum nachhaltigen Qualitätsbegriff).
Unsere Normexperten Thomas Votsmeier und Jürgen Jacob haben mit ihrer Replik bei mir immerhin erreicht, die ISO Definition als für bestimmte Zwecke durchaus geeignet und stimmig anzuerkennen (siehe Beitrag der beiden).
Dr. Ekkehard Helmig ließ mir und den beiden Kollegen aber keine Ruhe (Danke dafür!) und hat unter Rückgriff auf literarische Klassiker die Notwendigkeit der Diskussion um die Frage „Was ist Qualität?“ in seinem Meinungsbeitrag in der QZ bestärkt. Er brachte mich darauf (manchmal fällt der Groschen spät), dass wir nicht die eine Definition brauchen, sondern besser darin werden müssen, unter Rückgriff auf unterschiedliche und sogar widersprüchliche Definitionen die Diskussion miteinander und mit unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft zu führen.
Im DGQ-Regionalkreis Nürnberg hatte ich dann Anfang Mai die Gelegenheit, über unterschiedliche Definitionen und Perspektiven auf das, was Qualität sein kann, mit DGQ-Mitgliedern zu diskutieren. Unter anderem habe ich dabei die folgende Grafik erstellt und erstmalig gezeigt.
Messbarkeit und Verhandelbarkeit von Qualität sind im Geschäftskontakt unverzichtbar. Beides zu erzeugen leistet unsere ISO Definition recht gut. Anforderungen sind der Schlüssel dazu. Wir erheben die Anforderungen aller relevanten Gruppen, übersetzen sie in messbare Qualitätsmerkmale und realisieren sie. Dann entsteht Qualität.
Und es entsteht ein gefährlicher Zirkelschluss: Alles, was im Discounter steht und immer wieder gekauft wird, ist Qualität. Denn es erfüllt ja die Anforderungen einer Käufergruppe und die der Interessengruppen, die das Unternehmen für relevant erklärt. Mit der gleichen Begründung ist jedes Auto ein Qualitätsauto, jede Bankdienstleistung eine Qualitätsleistung. Das Produkt verbraucht enorm viele Ressourcen? Fleisch stammt von in zu engen Kastenständen auf Spaltböden gehaltenen Tieren? Hochriskante Finanzanlagen für Achtzigjährige? Die Angaben auf der Verpackung sind irreführend? Beim Zulieferer arbeiten Kinder unter sehr schlechten Bedingungen? Das Produkt kann nicht repariert werden? Die Akkus sind nach zwei Jahren unbrauchbar, können aber nicht ausgetauscht werden? Egal, alles ist Qualität. Was kann der Hersteller oder Anbieter dafür, dass der Gesetzgeber so schlechte Anforderungen formuliert, die Behörden ein Auge zudrücken oder die Kunden so uninformiert oder uninteressiert sind? Hersteller und Anbieter erzeugen und liefern beste ISO-Qualität.
Die Grafik half mir, meine Gedanken zu sortieren: ich sehe eine „juristische Qualität“, die Erfüllung vertraglicher oder gesetzlicher Anforderungen. Aber einige dieser Anforderungen, die die Vertragsparteien oder Legislative stellvertretend für andere formulieren, sind handwerklich schlecht. Sie sind außerhalb der „fachlichen Qualität“, außerhalb dessen, was Produktexperten als fachlich gut einschätzen. Zudem gibt es noch moralische Aspekte, eine „moralische Qualität“. Jetzt wird es dreifach schwierig: Moral ist schlecht messbar, sie ist das Ergebnis informaler, veränderlicher, gesellschaftlicher Aushandlungs- und Meinungsbildungsprozesse. Es gibt in vielen Aspekten keinen moralischen Konsens, der alle Gruppen der Gesellschaft einbezieht. Und schon die Begriffsverwendung ist für viele anstrengend bis allergieauslösend.
Doch beim Erstellen der Grafik und meinem durch sie neu fokussierten Nachdenken über Qualität wurde ich mir immer sicherer. Qualität hat fachlich messbare und juristisch bewertbare Dimensionen. Und eine nicht oder kaum messbare moralische Dimension. Über sie findet in der Gesellschaft ein permanenter Aushandlungsprozess statt. Der ist schwierig, anstrengend und wird immer wieder neu gestartet, kommt also nie zu einem finalen Ergebnis. Unternehmen müssen sich an die Gesetze halten. Hoffentlich machen, produzieren und leisten sie im Rahmen der Gesetze aber keine untauglichen und keine unmoralischen Dinge. Heutige Kunden und zukünftige Generationen werden es ihnen danken.
Als Profis auf dem Gebiet des Qualitätsmanagements dürfen wir uns und unseren Diskussionsbeitrag nicht auf die fachliche und juristische Dimension beschränken. Nur wenn wir unsere bisherige fachliche Blase verlassen und über die ISO Definition von Qualität hinausgehen, können wir unserer Aufgabe Qualitätsmanagement in Zeiten gesellschaftlichen Wandels umfassend gerecht werden. Und nur dann können wir an der so wichtigen gesellschaftlichen Diskussion über Qualität und Nachhaltigkeit teilnehmen.
Was meinen Sie? Geht Ihnen das zu weit? Oder ist das ein Feld, mit dem wir uns intensiver befassen sollen?
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