So sieht’s aus: Darf’s auch etwas weniger sein?29 | 09 | 21

Neulich lieh ich mir das Automobil einer Kollegin. Es ist das gleiche Modell, das auch ich seit drei Jahren fahre, nur nigelnagelneu. Es roch nach Neuwagen, war innen und außen blitzblank – es säuselte geradezu NEU während meiner kurzen Fahrt. Vieles kannte ich bereits von meinem Wagen, manches schien neu und anders zu sein.

Und dann machte mich eine mir bisher unbekannte Funktion fassungslos. Beim Öffnen der Fahrertür projizierte die Tür einen Schriftzug auf den Asphalt. Bestimmt kann mir jemand darlegen, was die Funktion ist, warum das eine wichtige Funktion ist, wahrscheinlich sogar, dass es eine aufgrund von Marktstudien und Kundenanforderungen unverzichtbare Funktion ist. Fassungslos.

Ich dachte nur: was für eine Ressourcenverschwendung für mich naiven, anspruchslosen Fahrer. Wieviel Entwicklungszeit, Energie und materielle Ressourcen sind in diese Funktion geflossen? Und wie viele Hundert Funktionen meines Fahrzeugs kenne ich gar nicht, habe sie noch nicht einmal bemerkt, noch nie benutzt, weil ich sie nicht bedienen kann? Denn ich lese auch nicht in der hunderte Seiten starken Betriebsanleitung nach. Mein eigenes Versäumnis, weiß ich, aber das Ergebnis bleibt das gleiche.

Mit neuer Technik fühle ich mich dann am Wohlsten, wenn ich ihre wesentlichen Funktionen intuitiv bedienen kann – und sie einwandfrei und dauerhaft funktionieren. Es gibt Hersteller, die genau das bieten. Außerdem erwarte ich, dass sich niemand meldet (bzw. melden muss), weil der Hersteller festgestellt hat, dass irgendetwas kaputt geht oder doch unvorhergesehen (aber nicht unvorhersehbar!) so gefährlich ist, dass er verpflichtet ist, es aus dem Verkehr zu ziehen.

Nun will ich nicht den Fehler machen, zu denken, dass alle oder auch nur viele Konsumenten so ticken wie ich. Doch eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf:

Kann es sein, dass einige Anbieter ihre Produkte so mit Funktionen überfrachtet haben, dass sie sie gar nicht mehr beherrschen?

Das Automobil halte ich für ein gutes Beispiel. Trotz eines massiven Ausbaus des Qualitätsmanagements der Lieferkette über Jahrzehnte sind die Fehler und Pflichtrückrufzahlen enorm und auf ein unvorstellbar hohes Maß gestiegen. Funktioniert also entweder das QM nicht ausreichend, oder kommt ein immer besseres QM nicht gegen die kontinuierliche Fristverkürzung und Komplexitätssteigerung an? Mit jeder zusätzlichen Funktion, mit jedem zusätzlichen System, entstehen neue Wechselwirkungen, potenzieren sich die Fehlermöglichkeiten. Dazu, wie in dieser Blogserie üblich, habe ich eine Grafik für Sie.

Das andere mögliche Extrem (gestrichelte Linie) am Anfang der Skala ist das Minimum Viable Produkt (MVP), das Produkt, das minimalistisch seine Basisfunktion erfüllt. Startups testen damit die Marktakzeptanz ihrer Produkte. Auch hier steht das Qualitätsmanagement vor der Herausforderung, zu klären, wie sich die Qualität der MVPs und Startups managen lässt. Es schließt sich die Frage an, wie wir die Qualität unausgereifter Produkte managen.

Das etablierte QM ist aus meiner Sicht am ehesten für ausgereifte Produkte geeignet, die sehr kompliziert und durchaus auch in Maßen komplex sein können. Solange das Automobil „nur“ sehr kompliziert und ein wenig komplex war, haben die Hersteller und ihre Liefernetze ihr Produkt noch recht gut beherrscht. Jetzt ist es – bei den meisten Herstellern – hyperkomplex. Und meine Beobachtungen verfestigen in mir den Verdacht, dass die Hersteller und ihre Liefernetze dieses hyperkomplexe Produkt nicht mehr beherrschen.

Wie managen wir die Komplexität hyperkomplexer Produkte? Das müssten wir herausfinden. Oder die Komplexität wieder auf ein beherrschbares Maß zurückfahren. Nicht nur in der Automobilbranche, sondern auch in vielen anderen Branchen. Dass dann beim Öffnen der Fahrzeugtür keine Leuchtschrift am Boden erscheint, kann ich gut verkraften.

Wie sieht es bei Ihren Produkten und Dienstleistungen aus? Haben Sie die Schwelle zur unbeherrschbaren Hyperkomplexität schon überschritten?

 

Lieferkette, Fehlerkette. – Wie wir unsere Fehlerkultur weiterentwickeln.

In der Keynote des 14. Bergischen Qualitätsforums erklärt Dr. Benedikt Sommerhoff, wo wir ansetzen können, um unsere Fehlerkultur weiterzuentwickeln. Der Videobeitrag führt das Thema rund um die Hyperkomplexität fort und betrachtet auch dessen Auswirkungen auf die Lieferketten. Welche Arten von Fehlerkulturen gibt es und welche Ansatzpunkte können geschaffen werden, um eine Veränderung der Fehlerkultur nachhaltig zu erwirken?

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

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