Lebensqualität versus Effizienz11 | 02 | 16

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Preis, Prozessoptimierung, Verschlankung – alles Mittel zum Zweck

Die aktuellen Ereignisse überschlagen sich wieder einmal. Da kommt ein Großunternehmen seinem Qualitätsversprechen nicht nach und plötzlich tun sich Abgründe auf. Panische Politiker, die völlig empört darauf reagieren und Maximalforderungen an Entschädigungen stellen. Wütende Kunden, die sich betrogen fühlen und Manager, die ihren Hut nehmen müssen. Kam das alles wirklich so überraschend? Der Kampf um jedes verkaufte Auto, unrealistische Umsatzziele, nicht zu erreichende Kennzahlen, kurz eine Traumfabrik. Mit ihrer unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und nun hat es einmal mehr die Automobilindustrie erwischt.

Die eigentliche Ursache, das Grundübel dahinter scheint allerdings davon völlig unberührt: Die regelrechte Besessenheit nach immer effizienteren Strukturen, Prozessen und Produkten. Kostensenkung um jeden Preis, Prozessoptimierung, Verschlankung – alles Mittel zum Zweck: Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. So war es offenbar zu teuer, in neue Technologien zu investieren, um die Emissionswerte real einzuhalten. Die Manipulation von Messungen war indes viel effizienter. Abgelenkt werden wir derzeit mit dem Fokus auf der messtechnischen Rückführung. Doch damit nicht genug. Unterdessen läuft das Effizienzspiel unberührt weiter in allen anderen Branchen, die gerade nicht im Rampenlicht stehen. Eine Forderung der Zeit, des Systems, der globalen Wirtschaft. Doch wo bleibt eigentlich der Kunde, um den sich alles dreht? Das mündige Subjekt.

Auf der Strecke bleibt der Kunde

Um es kurz zu sagen: Auf der Strecke. Denn Kunden, die sich nicht effizient bedienen lassen, laufen Gefahr, schlichtweg schlecht behandelt zu werden. Das ist Zeitgeist. Die Ökonomisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens trägt ihren Teil dazu bei. Doch was, wenn wir Lebensqualität einfordern? Zunächst sind wir konfrontiert mit Beliebigkeit und Langeweile, die sich aus der Corporate Identity ergibt, dem künstlichen Kern, der jede Kreativität im Keim erstickt. Lebensqualität bedeutet aber soziale Inklusion, Teilhabe, Entfaltung, Kreativität. Leistung allein, wenn auch aus Leidenschaft, reicht nicht mehr. Die Folge, immer mehr Menschen wenden sich davon ab.

Denn Effizienz heißt auch Stress und Verlust von Lebensqualität. Stellen Sie sich vor, man liest Ihnen Ihre Wünsche von den Augen ab, organisiert alles so, wie Sie sich das in jeder Situation vorstellen. Alles, was Sie noch tun müssen, ist zu genießen. Stattdessen werden wir beworben mit noch besser gestalteten Automaten, übersichtlicheren Internetseiten, billigeren Lebensmitteln und so weiter.

Die Effizienz triumphiert

Alles Beispiele für ein Mehr oder bereits zu viel an Effizienz. So verlängert sich etwa ihre Wochenarbeitszeit mit jedem Automaten, den Sie selbst bedienen. Ihr Lohn ist meist eine monetäre Differenz oder ein angeblicher Zeitvorteil. „Umgehen Sie das Anstehen am Schalter“ ist ein typischer Werbesatz. Besonders ungünstig wird es, wenn sie irgendwann trotzdem in einer Schlange stehen, nämlich vor den Automaten, weil auch kein Schalter mehr existiert. Die Effizienz triumphiert. Ihre Lebensqualität ist wieder ein Stück geschrumpft.

Gleiches gilt bei Bestellungen im Internet. Diese führen nicht etwa zu mehr Freizeit, sondern gehören auf ihr Arbeitszeitkonto, da Sie Ihre wertvolle Zeit mit angestrengtem Suchen und Vergleichen verbringen. Dass der zusätzliche Stromverbrauch den Geldvorteil wieder egalisiert und die verlorene Freizeit nicht zurückgeholt werden kann, ist bitter.

Jedes Nahrungsmittel wird effizient verwurstet

Auch beim Thema Essen kann man feststellen, dass billige Lebensmittel selten gesund sind. Wer billig kauft, zahlt doppelt. Und zwar im späteren Leben, wenn die gesundheitlichen Probleme auftreten. Zu viel Fett und zu viel Zucker sind Stressoren, die den Körper von innen angreifen. Pestizide, Fungizide, Hormone, Antibiotika und Kunstdünger gehören zum selbstverständlichen Arsenal der konventionellen Nahrungsmittelindustrie. Hat mit moderner Erzeugung nichts zu tun und senkt ihre Lebensqualität spätestens bei gesundheitlichen Auswirkungen. Aber auch die Tiere und die Umwelt werden vergiftet. Wollen wir ein solches Land wirklich so unseren Kindern übergeben? Auch hier liegt die Ursache im Effizienzdogma. Jedes Fitzelchen Nahrungsmittel wird so effizient verwurstet, dass bei genauem Hinschauen jedem Kunden sofort der Appetit vergehen würde.

LOL, LG, VG – das Effizienzdogma hält Einzug in den Alltag

Und haben Sie sich eigentlich schon mal gefragt, weshalb Sie ihre Mitmenschen nicht mehr richtig verstehen? Denn selbst auf der zwischenmenschlichen Ebene hat das Effizienzdogma längst im Alltag Einzug gehalten. Worte wie LOL, LG, VG und asap reduzieren den Aufwand an sprachlichen Signalkosten. Die Rechtschreibreform ist keine Jahre her; eigentlicher Zweck war die Beseitigung von Hemmnissen beim Fremdsprachenerwerb, um Deutsch als Sprache attraktiver und verständlicher zu machen. Eine Forderung der Globalisierung. Ergebnis: Großer Sprachmurks, den es nicht lohnt, im Detail kennen zu lernen oder etwa doch kennenzulernen? Hier herrscht seitdem große Verunsicherung.

Effizienz in Reinkultur

Unterdessen führt all das zu Angststörungen, Beziehungsstörungen und Depressionen. Die Zahl der Singlehaushalte explodiert. Glücklich, wer eine Familie hat, die Rückhalt und Schutz bietet, wenn Sie noch intakt sein sollte. So monoton wie sich viele Menschen mittlerweile innerlich fühlen sind übrigens auch unsere neuen Gebäude gestaltet. Der Begriff der Schießscharten-Architektur ist im Sprachgebrauch angekommen. Gut zu bestaunen im Berliner Regierungsviertel. Die Idee einer solchen Fassade ist Effizienz in Reinkultur: Die maximale Flexibilität in der Verwertung der Raumsituation durch verschiebbare Wände und möglichst schmale Fenster. Assoziationen mit Gefängnisarchitektur liegen auf der Hand. Auch hier zieht der Mensch wieder einmal den Kürzeren. Als Opfer des Systems, dass uns zu Humankapital degradiert, ohne Würde, obwohl die gleiche ja unantastbar sein soll

Zwei Arten von Effizienz

Doch gibt es einen Ausweg? Jahrzehntelang galt Wachstum als alternativlos für eine erfolgreiche Volkswirtschaft. Nun gilt dieses Dogma nicht mehr – besonders vor dem Hintergrund von endlichen Rohstoffen und dem Klimawandel. Daher ist der effiziente Umgang mit Ressourcen sicher der richtige Ansatz, nur muss heutzutage Effizienz im Zusammenhang mit Lebensqualität gedacht werden. So wie es Eustress und Distress (förderlicher und schädlicher Stress) gibt, so existieren zwei Arten von Effizienz: Nimmt die Lebensqualität bei steigender Effizienz zu, so spricht man von konstruktiver Effizienz, nimmt die Lebensqualität aber bei steigender Effizienz ab, so handelt es sich hierbei um destruktive (zerstörerische) Effizienz.

Weniger destruktive Effizienz führt also zu mehr Lebensqualität. Als Beispiel sei der Boom der Biomärkte genannt. Vom Effizienzgedanken her ist die Erzeugung von Bio-Lebensmitteln ein absoluter Rückschritt. Zu viel Handarbeit, zu teuer, zu wenig Automatisierung. Der Verbraucher honoriert es aber, denn die Lebensqualität ist hier der eigentliche Maßstab. Keine Pestizide, hohe Standards, das gute Gefühl von fairem Handel.

Lebensqualität ist auf dem Vormarsch

Auch der Trend, die Arbeitszeit zu reduzieren, um sein Leben zu genießen steht dem Effizienzprinzip entgegen, denn warum nicht gleich länger arbeiten und dafür mehr verdienen? Was aber, wenn mir der Tausch Zeit gegen Geld nicht mehr wirklich einleuchtet. Auch die Höhe des Gehaltes sekundär ist, weil mir der Inhalt und Sinn der Arbeit wichtiger wird. Die Generation Y macht es vor und hinterfragt scheinbar Notwendiges. Warum immer nur als Individuum zum Ziel kommen, wenn Teams doch in vielen Bereichen bessere Lösungen erreichen. So wird zum Beispiel die Kreativteammethode Design Thinking zunehmend von Großunternehmen nachgefragt, da sich diese in einem internationalen Wettbewerb um die besten Lösungen befinden. Gleichzeitig gibt es erste Forderungen nach digitaler Entgiftung und Entschleunigung auf Seiten der Endverbraucher. Hierbei steht eindeutig die Lebensqualität im Fokus und ist auf dem Vormarsch.

„Made in Germany“ verträgt sich nicht mit destruktiver Effizienz

Ein weiter wie bisher geht jedenfalls nicht mehr. Was es zum Beispiel bedeutet, „das billigste Angebot gewinnt“ als Kriterium für Ausschreibungen zu verwenden, kann man in Berlin bei Großprojekten eindrucksvoll studieren. Da wird eine Staatsoper nicht fertig; mehrfache Umplanungen werden notwendig, der Zeitplan indes bleibt unverändert mit dem Ergebnis: weitere Verzögerungen, Fertigstellungstermin unbekannt. Es folgen Kostensteigerungen und zum Abschluss ein Untersuchungsausschuss. Auch ein aus dem Fernsehen sehr bekannter Flughafen teilt das gleiche Schicksal. Und das alles „Made in Germany“. Diese Marke, verbunden mit einem hohen Qualitätsanspruch verträgt sich nur eben nicht mit destruktiver Effizienz. Das sollten die Entscheidungsträger erkennen und bei ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen.

Effizienzlüge kostet Billionen

Wohin man schaut, die Effizienzlüge kostet die Gesellschaft Billionen. Deshalb ist hier insbesondere die DGQ aufgefordert, ganz klar Position zu beziehen, um weiteren Schaden von unserer Volkswirtschaft abzuwenden. Die Zeit ist reif, nicht mehr allein das Effizienzprinzip unser Leben bestimmen zu lassen, sondern zunehmend den Faktor Lebensqualität in den Fokus zu rücken. Für das Berufsbild des Qualitätsmanagers bedeutet das, dass die Kunst des QM nun genau darin bestehen wird, das Optimum zwischen Effizienz und Lebensqualität in den Abläufen zu finden. Wie das aussehen kann, dazu wird es zeitnah Veranstaltungen im Regionalkreis Berlin geben.

Über den Autor: Stefan Kohl

Stefan Kohl ist Experte für Rechtsvorschriften und QM im Bereich Lebensmittel/Pharma. Nach dem Studium der Biologie in Berlin und London und internationalen Tätigkeiten in der Wirtschaft widmete er sich verstärkt dem Qualitätsmanagement und entwickelte seine Hypothesen zum Thema Lebensqualität und Effizienz. Als DGQ-Mitglied ist es ihm nun sehr wichtig, die offenkundigen Potentiale unserer Volkswirtschaft auf diesem Feld aufzuzeigen und Handlungsoptionen zu entwickeln, die den derzeitigen Kurs substanziell verbessern können.

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