Kalender- oder Feigenblatt?10 | 06 | 22

Die Zeiten sind kurzlebig. Was zählt da schon ein einzelner Tag? Auch wenn er einem besonderen Personenkreis gewidmet ist. Am 12. Mai „kalenderte“ es auf diese Weise am internationalen Tag der Pflegenden. Der Originaltitel lautet „International Nurses Day“ und ist ein Hinweis, dass es sich um den Ehrentag für die Profis handelt. Diese symbolische Anerkennung haben sie auch mehr als verdient. Doch wie sieht es eigentlich mit den Nichtprofis aus, die sich ebenfalls in der Pflege engagieren?

Quantifizierung einer Top-Leistung

Von den über vier Millionen (4,128 Millionen) pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden mehr als die Hälfte (2,116 Millionen) daheim ausschließlich von den eigenen Angehörigen gepflegt (Destatis, 2022). Hinzu kommt eine weitere knappe Millionen Menschen (0,983 Millionen), bei denen sich Profis und Angehörige die pflegerische Arbeit teilen.

In dieser Statistik wird gezählt, wer nach dem Gesetz mindestens sechs Monate pflegebedürftig ist. Es sind demnach insgesamt mindestens drei Millionen Menschen, die zuhause dauerhaft von ihren Angehörigen pflegerisch betreut werden. Diese Laien-Pflegekräfte stehen jeden Tag bereit und übernehmen viel Verantwortung für andere Menschen. Es wird Zeit, das zu würdigen!

Unbezahlbare Verantwortung

Das sogenannte Pflegegeld ist weder der Höhe noch dem Sinn nach vergleichbar mit einem Gehalt. Es wird an Menschen ausgezahlt, die ganz oder teilweise von Angehörigen pflegerisch versorgt werden. Dabei geht es mehr um eine Aufwandsentschädigung, die nicht die emotionale und körperliche Leistung dieser Laienpflegenden aufwiegt. Viel mehr noch muss man den Blick darauf richten, welchen Dienst diese Menschen nicht nur ihren Angehörigen erweisen, sondern auch unserem Gesundheitswesen – das heißt, uns allen.

In Deutschland gibt es 1,2 Millionen Vollzeitäquivalente an erwerbstätigen Pflegekräften (Arbeitsagentur, 2019). Da ist die Krankenpflege mitgezählt, die jedoch vor allem Menschen versorgt, die nicht langzeitpflegebedürftig sind. Gäbe es nicht die unglaubliche Masse der Laienpflegekräfte, wären die Folgen für die Menschen in der Langzeitversorgung katastrophal. Pflegende Angehörige sind ein Fundament unseres Pflegesystems.

Dieser Dienst wird mit einer älter werdenden Gesellschaft rechnerisch immer länger. Und gleichzeitig anspruchsvoller und härter, weil sich damit auch die Bedarfe verändern. Man denke an die absolute Zunahme der demenziell erkrankten Menschen, die altersbedingte Multimorbidität, bei gleichzeitig immer mobileren Familienstrukturen: das Mehrgenerationenhaus ist heutzutage die Ausnahme.

Einladung

Die Deutsche Sprache birgt manchen Vorteil. Nicht nur, dass „Danke“ ein relativ kurzes Wort und dennoch bedeutungsvoll ist. Der Begriff „Pflegende“ unterscheidet im Gegensatz zu Englisch „Nurse“ nicht zwischen Profis und Laien. Doch leider verpufft dieser vermeintliche sprachliche Segen in der Realität. Denn zur Würdigung der Laienpflegerinnen und -pfleger, also den Angehörigen, hat dieser Umstand hierzulande nicht geführt. Auch die DGQ hat am 12. Mai vor allem die professionell Pflegenden und damit das originäre Motto des Tages im Auge gehabt.

Wir haben uns angewöhnt, nach vorn zu schauen. Das kann aber bedeuten, dass wir im kommenden Jahr im Mai vor dem Kalender stehen und erneut mit einer Mischung aus Respekt und Betroffenheit die Zeitenwende für die Pflegenden beschwören. Es steht außer Frage, dass es in dieser Hinsicht für die Profis enorm viel zu tun gibt. Wir dürfen uns aber bis dahin auch für eine entsprechende Würdigung der pflegenden Angehörigen einsetzen. Sie sind herzlich eingeladen, sich ein Jahr lang dazu am gemeinsamen Diskurs zu beteiligen!

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

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