Interview mit Almuth Strathe: Innovation in der Pflege geht doch!2 | 05 | 24
Die Demografie hierzulande hat in der Pflege voll zugeschlagen, es gibt einen sektorenübergreifenden Pflegenotstand und eine Pleitewelle im Heimbereich, die Forderungen an die Politik nach einer großen Pflegereform kommen aus allen Richtungen. Wie kann die Pflege zukünftig wieder positiv beeinflusst werden?
Im Interview mit Holger Dudel, Leiter DGQ Themenfeld Pflege, berichtet Almuth Strathe, Coach, Beraterin, Auditorin und freie Autorin, wie Innovation der Pflege helfen kann und was es dazu braucht.
Liebe Frau Strathe, Sie sind Auditorin und beraten Pflege-Unternehmen, haben also das Ohr ganz nah an Organisationen im Themenfeld. Was fällt Ihnen dabei besonders auf?
Bei meinen Besuchen in Unternehmen, die Pflegeleistungen anbieten, stelle ich häufig Resignation und Hilflosigkeit fest. Aus Management-Sicht sind Veränderungen und Innovationen lebensnotwendig. Aber die Meinungen dazu in vielen Organisationen ähneln sich und lauten: „Innovation in der Pflege geht nicht! Erst wenn Politik etwas gegen den Fachkräftemangel tut und wir die Digitalisierung finanziert bekommen, dann…“, oder: „Ach, und überhaupt! Wir brauchen mehr Wertschätzung!“
Ist das denn falsch: Wir hören seit Jahren, dass die Demografie hierzulande in der Pflege voll zugeschlagen hat, wir haben sektorenübergreifend Pflegenotstand, es gibt eine Pleitewelle im Heimbereich, die Forderungen an die Politik nach einer großen Pflegereform kommen aus allen Richtungen und nach der Corona-Pandemie ist die gesellschaftliche Stellung der Pflege wieder zurückgefallen?
Das ist richtig und auch bei näherem Hinschauen gibt es in jeder Ecke Defizite, sowohl nur von außen beeinflussbare, als auch die organisationsinternen. Ich stimme also erst einmal zu:
- Ja, die Situation ist fatal!
- Ja, die Politik sollte…!
- Ja, die Unternehmensverantwortlichen haben über den Blick nach außen ihre Verantwortung vergessen.
- Ja, in der stationären Altenpflege werden immer noch Gebäude als „Heime“ und nicht als „Zuhause“ konzipiert.
- Ja, die Strukturen und Prozesse in der Altenpflege sind seit Beginn annähernd gleich geblieben.
- Ja, die meisten Leitbilder sind das Papier nicht wert auf dem sie gedruckt sind.
Aber?
So gibt es keine Zukunft in der Altenpflege! Von der Qualität ganz zu schweigen.
Lassen Sie uns, darüber sprechen, was die Zukunft der Pflege positiv beeinflussen kann. In Ihrem Buch „Wahrhaftigkeit ist unbequem…“ legen Sie dar, dass Innovation ein Treiber von Qualität und eine Führungsaufgabe ist? Inwieweit lässt sich das auf den Bereich der Pflege übertragen?
Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf. Wer immer noch jammert und das Hamsterrad des „weiter so“ munter bedient, handelt als Führungskraft sehr leichtsinnig und für das Unternehmen, für die Pflege-Kund:innen, für die Qualität der Leistung ist das höchst gefährlich.
Wenn Führungskräfte die Begriffe „Innovation“ und „innovativ“ nutzen, aber nicht definieren können, was sie für ihr Unternehmen bedeuten, ist das erschreckend. Wenn es keine oder kaum Bereitschaft zur Investition in Zukunft bei den Geschäftsführer:innen und Einrichtungsleitungen gibt, sind es diese Personen, die Veränderung und Qualität in der Pflege blockieren.
Puuh!!
Das musste mal raus.
Ich verstehe Ihr Statement als Appell an das Management, den Fokus nach innen zu richten. Sie haben in Pflege-Einrichtungen viele Erfahrungen gesammelt. Wie würden Sie die unternehmensinternen Voraussetzungen beschreiben, die erfüllt sein müssen, um Veränderungen und Innovationen nachhaltig in Pflege-Unternehmen zu verankern?
Das ist richtig. Ich nehme bei vielen Gelegenheiten wahr, dass die Grundstimmung ist: „Innovation in der Pflege geht nicht.“
Ich behaupte und sehe dafür Beispiele: Innovation in der Pflege geht doch! Trotz alledem!
Es existiert aber kein Schema für alle. Es gibt jeweils unterschiedlich gewachsene Strukturen, eine Unternehmens-Historie wie auch eine gewachsene Firmenkultur. Der Kontext ist also entscheidend. Und ich muss gucken, was vor Ort die spezifische Frage ist: Was ist denn wirklich innovativ für mein Unternehmen? Aber nicht nur das ist wichtig, sondern Struktur und Abläufe im Unternehmen müssen Innovationen zulassen. Das geht von den baulichen Voraussetzungen über die Zusammensetzung der Pflege- und Versorgungsteams bis hin zur Pflegeplanung.
Oh, das klingt nach Rundumschlag. Wie kann das funktionieren?
Wie schon gesagt, es gibt unternehmensspezifische Fragen. Daraus folgen unternehmensspezifische Antworten, aus denen jeweils Lösungen entwickelt werden können. Eins ist aber klar: Änderung kann schmerzhaft sein! Dafür muss man konfliktfähig sein. Es geht um die Haltung und eine daraus abgeleitete Vorgehensweise, die für alle gilt.
Sie beziehen sich bei dem Thema Innovation auch auf das Buch „Seniorenwirtschaft. Management und Perspektiven“. Können Sie kurz zusammenfassen und Ihre eigenen Punkte ergänzen?
Gerne, ich stelle einmal die wichtigsten Dinge aus meiner Sicht vor, dazu gehören in Stichpunktform:
- die Notwendigkeit des Handelns erkennen
- den Unterstützungsbedarf erfassen
- eine Vision oder Zukunftsbild haben
- die Situation umfassend analysieren
- Fragen in die Tiefe und Weite finden
- Antworten suchen und Möglichkeiten finden
- Ziele formulieren
- projektorientiert planen und regelhaft überprüfen
- Mut, Offenheit, Lern- und Entwicklungsbereitschaft haben
- neues Wissen erobern.
Das ist das A und O des Change-Managements. Was genau meinen Sie mit Innovation?
Innovation ist erstmal abstrakt, bis es an die Gestaltung neuer Strukturen, Prozesse und die Ressourcen-Planung geht. Die Betonung liegt auf „neu“ und „zukunftsorientiert“ also nicht allein die Veränderung bestehender Dimensionen. Und wieder sind erst Fragen zu stellen und für die Antworten die „ja-aber-Schere“ wegzulegen. Am Beispiel „Aufnahme“, also der Einzug in ein Heim oder der erste Kontakt mit dem Hauspflegedienst, könnte geübt werden.
- Wer hat welchen Nutzen und warum ist der neue Gedanke besser als das Bisherige?
- Von welcher Perspektive betrachten wir die jeweiligen Antworten?
- Was ist an den Antworten wirklich neu?
- Gelingt es, „Out Of The Box“ zu denken?
- Wie fließen neue Ideen in unsere Antworten?
- Welche Quellen könnten wir nutzen?
Diese Art, Fragen zu stellen, bedeutet in der Praxis bestimmt ein Umdenken?
Ja. Die Kommunikation muss stimmen und geht der Veränderung voraus – in die gesamte Organisation hinein: Change-Kommunikation!
Das bedeutet für das Beispiel Aufnahme:
- Haben wir die Aufnahme als Prozess gedacht, der länger dauert als das Anamnese-Gespräch, weg von starr: „Haken dran“?
- Was braucht der Mensch, damit diese:r sich hier sicher und geborgen fühlt?
- Spielt Empathie in unserem Vorgehen eine Rolle?
- Denken wir die anderen beteiligten Professionen in unserem Handeln mit?
- Steht dieser Mensch wirklich im Mittelpunkt oder eher die betriebsinternen Abläufe?
Bei Innovationen und Veränderungen in und für die Pflege denken viele zunächst an Digitalisierung. Ihr Beispiel lässt den Schluss zu, dass es mehr um das Mind-Set geht und nicht zuerst um Lösungen?
Das ist richtig. Wir können die Pflege-Einrichtungen über die Zeit in fünf Generationen der organisatorischen Entwicklung einteilen: Anstaltstyp – Altenkrankenhaus – Altenwohnhaus – Stationäre Wohngemeinschaft – Quartierhäuser.
Viele Einrichtungen sind in der Entwicklung, nach meiner Einschätzung, zwischen Stufe drei und vier hängen geblieben. Dabei bedingt häufig eins das andere.
Nehmen wir die baulichen Strukturen: Ein Gebäude gibt den Charakter der Nutzung preis. Es zeigt, welcher Geist bei Planung und Fertigstellung vorhanden war. Auch bei dann einsetzendem Veränderungswillen, setzt das Gebäude scheinbar Grenzen des Möglichen. Sich da herauszuwagen, bedeutet Mut.
Deshalb: Innovation in der Pflege ist nicht nur Digitalisierung (Lösung). Wer Erneuerung in der Pflege denken (Haltung) möchte, hat viele Ansatzpunkte. Aber: Die Antwort darf wieder mal nicht vor der Frage kommen und nicht lauten: „Das geht sowieso nicht. Das können wir bei uns nicht umsetzen!“, sondern: „Was ist an Veränderung möglich, um viel von dem Gewünschten umzusetzen?“
Warum ist nach Ihrer Meinung der richtige Umgang mit Innovationen in der Pflege so wichtig?
Einige Pflegeeinrichtungen sind – wie gesagt – im Sinne des Modells in der Entwicklung stehengeblieben. Sowohl in ihrem Wissensstand wie in ihrer konzeptionellen Ausrichtung verharren sie im Status wie vor 20 Jahren. Dabei hat sich in der Zwischenzeit die Lage eklatant verschärft.
Pflegeplätze und Fachkräfte sind rar. Wo es einen Bedarf gibt, schafft der Markt ein Angebot. Leiharbeitsunternehmen und selbständige Freiberufler haben in diesem Bedarf ein Betätigungsfeld gefunden. Konzeptionell wurde das Hamsterrad als stabiler Bestandteil eingeführt. „Weiter so!“ ist das Motto. „Wir haben keine Zeit, kein Personal,…“
Doch wer jetzt immer noch nicht innovativ denkt als Geschäftsführer:in oder Einrichtungsleitung, hat verloren. Da hilft es auch nicht, das Hamsterrad noch schneller zu treten. Das Falsche wird immer falscher! Vielen Leitungskräften fehlt es an Wissen und damit an Ideen. Entwicklungsimpulse scheitern an Tunnelblick und mangelnder strategischer Ausrichtung, an nicht vorhandener Methodenkompetenz.
Können Sie Anregungen geben, es besser zu machen?
Stelle die Frage: „Was wäre wenn…?“ Das öffnet Denkräume und schafft Eventualitäten. Daraus können Visionen werden mit möglichen Zielen. Befreit vom Hamsterrad ergeben sich neue Perspektiven. Es gilt, die Gedankenbremsen von „ABER“ und „GEHT NICHT“ zu lösen. Nimm Kooperationspartner mit ins Denken und Entwickeln, schaffe eine Co-Creation! Und um es nochmal zu sagen: Fragen ist nicht falsch. Fragen sind nie falsch! Wie schaffen wir eine partizipative Unternehmens- und Kommunikationskultur?
Das klingt nach Grundsätzlichem und gleichzeitig für diesen Teil als Schlusswort.
Innovation ist als Experiment auf dem Weg zur Erneuerung zu verstehen. Es gilt hier als Reflexionsschleife im PDCA-Zyklus zu denken und zu handeln.
Lassen Sie uns bei der nächsten Gelegenheit bitte noch konkreter werden, wie Innovationen in die Handlungsumsetzung gelingen!
Über den Interviewgast:
Almut Strathe arbeitet als Coach, Beraterin und Auditorin. Sie ist Inhaberin des Beratungsunternehmens Strathe Zukunftsimpulse. Darüber hinaus ist sie als freie Autorin tätig und hat in dieser Rolle unter anderem das Buch „Wahrhaftigkeit ist unbequem: Wie unangenehme Fragen zur Wertschöpfung im Unternehmen beitragen“ verfasst.