Gesundheit fördern bei geforderten Pflegenden29 | 09 | 22
Es ist keine Neuigkeit: Immer mehr Menschen in Deutschland haben dauerhaft Pflegebedarf. Zwischen 1999 und 2019 hat sich die Zahl der Langzeitpflegebedürftigen verdoppelt und liegt mittlerweile bei 4,6 Millionen Menschen (destatis, 2022a / AOK, 2022). Aber es gibt nicht nur eine quantitative Zunahme, auch die Bedarfsstruktur ändert sich. Denn mit dem Altern steigt auch das Risiko, an mehreren Krankheiten gleichzeitig zu leiden. Hinzu kommt die absolute Zunahme degenerativer Erkrankungen des Zentralnervensystems, zu denen vor allem die Demenz gehört. Da entstehen Bedarfsbilder, die nur mit besonderer pflegefachlicher Expertise aufzufangen sind.
Auf der einen Seite gibt es also mehr Pflegebedürftige mit komplexeren Bedarfen. Auf der anderen Seite stehen die Pflegenden, welche die dafür erforderlichen Leistungen unter veränderten Bedingungen erbringen. Das geschieht an vielen unterschiedlichen Orten, unter anderem im Krankenhaus vor und nach Operationen oder bei Infektionen und auch bei so erfreulichen Anlässen wie Geburten. Professionelle Pflege wird in Rehabilitationseinrichtungen erbracht, in Praxen, Hospizen, in Vorsorgeeinrichtungen, in über 15.300 Pflegeheimen und von fast genauso vielen ambulanten Pflegediensten (Statista, 2022).
Die größte Pflegenden-Gruppe sind allerdings keine Profis, sondern Angehörige von Menschen mit Pflegebedarf. Für die gibt es keine exakte Zahl, aber sie muss mindestens im Größenbereich derer liegen, die nach dem Gesetz Pflegegeld erhalten. 2019 waren das gut drei Millionen Menschen (destatis, 2022b). Das sind fast doppelt so viele wie die 1,7 Millionen Pflegeprofis in demselben Jahr (Arbeitsagentur, 2022). Zusammen entspricht das mindestens fünf Millionen Pflegenden in Deutschland.
Krank mit Ansage
Profis wie Laien erbringen Pflegeleistungen – und zwar täglich. Um das tun zu können, müssen sie selbst über Ressourcen verfügen. Die Wichtigste ist die eigene Gesundheit. Das ist angesichts der zunehmenden und veränderten Bedarfe eine Herausforderung. Das belegen die Zahlen am Beispiel der Beschäftigten in der Altenpflege. Der Krankenstand ist dort zuletzt so hoch wie noch nie und liegt dazu auch noch 25 Prozent über dem Durchschnitt der Arbeitnehmer:innen in der Bundesrepublik (KKH, 2022).
Es gibt typische Symptome, die eine Reaktion auf den hohen körperlichen und seelischen Druck darstellen, welche die Arbeit in der Pflege mit sich bringt: psychische Erkrankungen wie das Burn-Out-Syndrom und sogenannte Muskel-Skelett-Beschwerden, zum Beispiel Rückenschmerzen, aber auch Bandscheibenprobleme und Gelenkentzündungen. Ein großes Problem mit einer hohen Dunkelziffer sind darüber hinaus Suchterkrankungen. Dazu tragen unterschiedliche Faktoren bei. Bei den Profis sind das unter anderem Schichtdienst mit wechselnden Ruhezeiten, hohe Arbeitsbelastung und -verdichtung sowie insbesondere in der Klinik der leichtere Zugang zu Suchtstoffen (Schmülling, 2018). Dieses Problem ist auch bei pflegenden Angehörigen bekannt, aber die Datenlage ist lückenhafter als bei den Pflegeprofis, wo von einer gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt deutlich erhöhten Zahl der Suchterkrankten ausgegangen wird (Maier, 2019).
Ganz vorn bei den Erkrankungen von Pflegenden stehen die Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, dicht gefolgt von den psychischen und verhaltensbedingten Störungen (TK, 2019). Zu diesen zählt neben Suchterkrankungen unter anderem das Burn-out-Syndrom, das eng mit einem Mangel an Stress-Resilienz verknüpft ist. Auch in der Gesamtbevölkerung gibt es diese Erkrankungen, aber in den Pflegeberufen sind sie signifikant erhöht, in der Altenpflege sogar doppelt so hoch im Vergleich aller Berufsgruppen. Neben der Zahl der Erkrankten nimmt auch die Schwere und damit die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu. Zudem sind die Ausfallzeiten von Beschäftigten in Pflegeberufen höher als die anderer Berufsgruppen. Dies richtet einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden an.
Gesetze mit Nebenwirkungen
Die Herausforderung ist klar: Pflegende sind einem hohen und zunehmenden Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Die beste Möglichkeit, Gefahren zu begegnen, ist die Vorbeugung. Die hat wegen der Komplexität des Problems mehrere Facetten. Eine davon ist die Vergrößerung der Personalressource, beispielsweise durch finanzielle Anreize oder verbindliche Tariflöhne. Auch die Zusammenlegung der grundständigen Ausbildungen zu einer generalistischen sollte einen Attraktivitäts-Schub bringen und die Pflegenden-Zahl erhöhen.
Tatsächlich haben diese Maßnahmen eine gewisse Wirkung. Aber faktisch reichen sie nur aus, die Schere zwischen Bedarf und Angebot etwas weniger schnell aufgehen zu lassen. Außerdem bedeutet ein Mehr an Pflegenden nicht, dass diese automatisch gesünder wären. Um das zu erreichen, müssen die besonderen Herausforderungen analysiert werden, die sich für die Gesundheit der Pflegenden ergeben, um auch qualitative Änderungen vornehmen zu können.
Die jetzige Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag die Bedeutung des Themas unterstrichen: „Der Dramatik der Situation in der Pflege begegnen wir mit Maßnahmen, die schnell und spürbar die Arbeitsbedingungen verbessern.“ (Bundesregierung, 2021) Allein, es sind daraus bislang keine Gesetze entstanden und pflegende Angehörige werden ausgerechnet hier nicht erwähnt, obwohl sie zahlenmäßig die Hauptlast tragen.
Der Gesetzgeber hatte bereits vor langer Zeit die Möglichkeit geschaffen, dass gesundheitsfördernde Maßnahmen über die Krankenkassen finanziert werden. Im Gegensatz zum Arbeitsschutz handelt sich aber um freiwillige Maßnahmen, weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer sind zur Bereitstellung oder Wahrnehmung entsprechender Gesundheitsförderungs-Angebote verpflichtet. Diese werden von den Kassen finanziell gefördert, gemäß §20 des fünften Sozialgesetzbuches (Krankenversicherung) in acht definierten Handlungsfeldern.
Prävention für die Pflege
Diese Vorsorge-Möglichkeiten und -Maßnahmen aus dem Handlungskatalog der Kassen sind nicht im Besonderen für Pflegekräfte konzipiert, sondern haben allgemein gesundheitsfördernden Charakter. Außerdem garantieren sie nur eine Teilfinanzierung. Arbeitnehmer müssen einen kleinen Beitrag zu diesen Maßnahmen selbst leisten, was die Hürde für die Überwindung des eigenen Schweinehunds nach eigener Beobachtung bei manchen Zielgruppen erhöht.
Die politisch Verantwortlichen haben die besonderen Herausforderungen erkannt, die sich für die Gesundheit von Pflegenden ergeben. Bereits von der Vorgängerregierung wurde im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) ein Programm speziell für die Pflege ins Leben gerufen, in dem bis 2024 insgesamt 100 Millionen Euro für Prävention zur Verfügung stehen. Damit sollen Maßnahmen vollständig finanziert werden, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege abzielen (GKV, 2020). Hierzu gehören insbesondere Gesundheitsförderungsmaßnahmen.
Krankenkassen haben bestimmt auch ein Eigeninteresse, dass ihre Mitglieder gesünder bleiben. Sie sind durch das Präventionsgesetz sogar gesetzlich dazu verpflichtet, mit zwei Euro pro Monat und Mitglied die betriebliche Gesundheitsförderung zu finanzieren (Haufe, 2016). Die Umsetzung erfolgt mit Schulungen zur Gesundheitsförderung, die speziell auf Pflegekräfte zugeschnitten sind und unter anderem dabei helfen, die Stress-Resilienz zu verbessern. Im Rahmen solcher Kurse ist die Hürde für eine Implementierung in Pflegeeinrichtungen am geringsten, weil Know-how für das Management und Vollfinanzierung von den Kassen erbracht werden.
Hausgemachte Hürden
Insgesamt ist aber Gesundheitsförderung ein Sorgenkind, nicht nur in der Pflege. Sie hat auf Grund der Rahmenbedingung gewöhnlich nur Projektcharakter, die Finanzierung gleicht einem Flickenteppich. Diese Voraussetzungen, gepaart mit der Freiwilligkeit der Durchführung fördern die flächendeckende Umsetzung nicht. Insbesondere in der Langzeitpflege, und dort noch verstärkt in der ambulanten Pflege, die von vielen Kleinstbetrieben geprägt ist, werden Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sogar gelegentlich als betriebswirtschaftliches und von Pflegenden als persönliches Risiko oder sogar als Bedrohung wahrgenommen.
Denn Arbeitgebende fürchten den Aufwand, der mit der Planung und Administration solcher Maßnahmen einhergeht. Arbeitnehmende in der Pflege wiederum scheuen häufig selbst kleine finanzielle Beiträge oder haben schlicht gar nicht die Möglichkeit, zusätzlich zu Arbeit und Familie, an solchen Programmen teilzunehmen.
Die Pflicht zum Träumen
Maßnahmen zur Gesundheitsförderung können nachweislich Risiken mindern und Menschen widerstandsfähiger für Ihre Tätigkeiten machen. Das gilt besonders für die Pflege, wo die Belastung für Körper und Psyche faktisch besonders hoch ist. Allerdings zeigt sich die Wirkung gesundheitsfördernder Maßnahmen häufig erst längerfristig, es gibt also keine schnellen Ergebnisse. Die würden allerdings eventuell zur Motivation beitragen und es andererseits der Wissenschaft erleichtern, gezielt und individuell zu belegen, welche Maßnahmen wie wirksam sind. Viele Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Gesundheitsförderung sind jedoch durch die zahlreichen Einfluss-Variablen, die über eine lange Zeit wirken, nur schwer zweifelsfrei nachzuweisen.
Zusammengenommen sind dies Voraussetzungen, unter denen Gesundheitsförderung in der Pflege weiterhin ein Schattendasein fristen dürfte. Daran könnte eine gesetzliche Durchführungspflicht auf der Arbeitgebenden-Seite etwas ändern. So sind auch die beiden anderen Säulen des betrieblichen Gesundheitsmanagements, die Arbeitssicherheit und die betriebliche Eingliederung organisiert. Außerdem könnte die Einbindung gesundheitsfördernder Programme in die Arbeitszeit die Motivation bei Arbeitnehmenden voranbringen.
Der Schlüssel dafür liegt wie so oft in der Budgetierung. Kurzfristig ist die Umsetzung einer Präventions-Pflicht teuer. Langfristig dürfte es sich auszahlen, sowohl auf Arbeitgebendenseite als auch volkswirtschaftlich – durch Verminderung der Erkrankungen – und erst recht bei gesünderen Pflegekräften mit einem Mehr an Lebensqualität. In der Angehörigenpflege könnte ein Anreiz durch eine Verknüpfung des Pflegegeld-Anspruchs mit der verpflichtenden Wahrnehmung von Präventionsangeboten liegen. Hier könnte der Schlüssel zu mehr Gesundheit in dem Prinzip des Förderns durch Fordern liegen.
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