Chance vs. Möglichkeit26 | 08 | 15

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Der Begriff „Risiko“ steht verstärkt im Zentrum der Diskussion, seit klar ist, dass mit dem baldigen Erscheinen von ISO 9001:2015 ein „risikobasierter Ansatz“ gefordert werden wird (Kapitel 6.1) – und das, obwohl damit die Implementierung eines ausgewachsenen Risikomanagementsystems mitnichten gemeint ist. Eine Organisation soll „lediglich“ relevante „Risiken und Chancen“ bestimmen und überlegen, wie sie damit umgeht. Also die erkannten Risiken bewerten und, soweit möglich, beherrschen – auch, um mögliche Chancen, die sich evtl. daraus ergeben, nutzen zu können. Was aber sind in diesem Zusammenhang eigentlich Chancen?

Im Februar dieses Jahres erst kam das ISO/TC 176/SC 2 beim seinem Treffen in Litauen überein, dass „Chance“ (opportunity) nicht immer Teil eines Risikos sein muss, sondern auch unabhängig davon bestehen kann – das liegt zwar bei genauerer Betrachtung auf der Hand, aber es ist kein Fehler, das noch einmal zu betonen. Hintergrund ist die im Revisionsentwurf enthaltene Wendung „Risiko und Chance“ (risk and opportunity), die aufgrund des Beschlusses in den FDIS übernommen wurde.

Die Norm hebt also, fast ein wenig nebenbei, auch auf den Begriff „Chance“ ab, allerdings ohne ihn wirklich zu erklären. Was ja z. B. in Kapitel 3 (Begriffe) leicht möglich gewesen wäre; man findet an anderen Stellen der neuen Norm (genauer: des FDIS) allenfalls Beispiele (Kapitel 0.3.3 / 6.1.2), wohingegen „Risiko“ explizit definiert wird, wenn auch ein wenig kryptisch. Wir wollen deshalb heute einmal der Chance die Möglichkeit geben, richtig verstanden zu werden und das, je nach Bedeutung, eben nicht zwangsweise damit verbundene Risiko in die zweite Reihe stellen – allerdings nicht achtlos.

Chance – ein Wort mit vielen Bedeutungen

Das Wort „Chance“ kann ganz unterschiedliche, teils verwirrend gegensätzliche Bedeutungen haben. Zum Beispiel diese: „Arbeiter-Kinder haben einer Studie zufolge nicht die gleichen Berufschancen wie Akademiker-Kinder …“, steht in der Zeitung. Diese Art von Chance ist nicht mit einem Risiko verknüpft, sondern meint eine Möglichkeit! Oder aus mathematischer Sicht: Hier kann – umgekehrt – Chance oft sogar mit Risiko gleichgesetzt werden, z. B. dann, wenn es um die Wahrscheinlichkeit geht, dass ein Ereignis eintritt. Auch die Wahrscheinlichkeit selbst wird dann oft mit dem Wort „Chance“ ausgedrückt (Abteilung Glücksspiele!).

In der sehr amerikanischen Wendung „no risk – no fun“ winkt beispielsweise eine mit einem Risiko verbundene „Wahrscheinlichkeits-Chance“. Natürlich regiert hier der Kitzel, und zwar nach dem Motto: Risiken erkennen? Unbedingt. Risiken bewerten? Kaum. Risiken beherrschen? Auf keinen Fall, macht ja keinen Spaß sonst! Aber selbst hartgesottene Hasardeure haben gegen die Chance, noch einmal davonzukommen, nichts einzuwenden … Hauptsache, man weiß nicht, wie groß sie ist. Diese Chance ist es übrigens, die uns für das Verständnis des Ausdrucks „Risiko und Chance“ direkt in den Irrgarten schickt.

Welche Bedeutung von „Chance“ meint nun die Norm?

Das evtl. positive Ergebnis einer „Wer-wagt-gewinnt-Aktion“ kann es nicht sein. Denn mit „Chance“ ist eben nicht die Wahrscheinlichkeit gemeint, mit der ein Unternehmen ein avisiertes Ziel erreicht – das ist ohnehin obligatorisch! Es geht vor allem um neue Felder oder Möglichkeiten, die sich im Zuge eines (beherrschten) Risikos für das Unternehmen auftun können; vielleicht kann man die Chance in diesem Zusammenhang am ehesten als eine Art „gewünschte oder angestrebte Begleiterscheinung“ von Risiken deuten. Wie können diese „Begleiterscheinungen“ aussehen? Die Norm zählt immerhin einige Beispiele auf wie Kundengewinnung, Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, Erschließung neuer Märkte etc. etc. Im Grunde ist das, was ISO 9001:2015 mit „Chance“ bezeichnet, also nichts anderes als ganz normales, wenn auch möglicherweise kreatives unternehmerisches Handeln, und mit ihrem vermeintlichen Pendent „Risiko“ nur insofern verknüpft, als es ohnehin kein Handeln ohne Risiko gibt.

Das alte Übersetzungsproblem

Die Schwierigkeit, die viele mit dem „Risiko-Chance-Paar“ haben, ist wohl erneut einer nicht ganz treffenden Übersetzung aus dem Englischen geschuldet. Denn das in dem englischen Normentwurf, wie anzunehmen ist, mit Bedacht gewählte „opportunity“ in „risk and opportunity“ heißt zu allererst einmal „Möglichkeit“ oder „Gelegenheit“ – manche Wörterbücher bieten ein Stück weiter hinten auch das Wort „Chance“ an, erläutern es aber eigens: „unternehmerische Chance“.

Warum heißt es im englischen Entwurf nicht „risk and chance“? Wenn man sich das englische Verb „to chance“ ansieht, kann man sich vorstellen, warum: Es heißt auf Deutsch „wagen“, „riskieren“ etc. Mit dem Substantiv „chance” wird ein weites Feld risikobehafteter, zufälliger, unerwarteter, unvorhersehbarer oder ohne erkennbare Ursache auftretender Ereignisse bezeichnet – nicht zuletzt auch ein Lotterie-Los. Eher selten wird es im Sinn von „opportunity“ (also Möglichkeit, Gelegenheit) verwendet, was für Risikobehaftetes o. Ä. kaum in Frage kommt. Put in a nutshell: Every opportunity is a chance, but not every chance is an opportunity.

Die Etymologie sagt: Das Wort „opportunity“ entstammt der lateinischen Wendung „ob portum veniens“, was nichts anderes bedeutet als „günstig, um in den Hafen zu kommen“, und zwar in Bezug auf die Windverhältnisse. Das Wort „chance“ hingegen kommt vom lateinischen Verb „cadere“, was mit „fallen“, „stürzen“, „sinken“, „unterliegen“ etc. übersetzt wird – kein Wunder, dass sich Risiken hier bedeutend wohler fühlen.

Frage: Warum müssen sich (einige?) deutschsprachige Qualitätsmanager etc. erst einmal in die Irre führen lassen? Vermutung: „Risiko und Chance“ ist unschlagbar plakativ, „Risiko und Möglichkeit“ leider nicht! Weshalb weiland John Lennon und Yoko Ono gerade nicht „give peace an opportunity“ gesungen haben …

Über den Autor: Peter Blaha

Peter Blaha, geboren 1954 in Frankfurt am Main, ist freier Journalist mit Spezialisierung auf „Managementsysteme“ und „Weinwirtschaft“ und DGQ-Mitglied. Er widmet sich neben der Erstellung von Fachbeiträgen seit jeher (und mit Vorliebe) dem nach seiner Meinung oft viel zu wenig beachteten Phänomen unklarer bis kurioser Formulierungen und Schreibweisen in der deutschen (Q-)Sprache. Wer dabei eine gewisse Nähe zur Argumentation des bekannten Journalisten Wolf Schneider zu erkennen glaubt, liegt nicht ganz falsch.

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