Normenrevision 2015 – Herausforderungen in der Umsetzung27 | 09 | 16

Silhouette Group of Business People Meeting ConceptAkzeptanz und Wirksamkeit für die nächsten zehn Jahre

Die neuen Managementsystem-Normen 2015 geben den Organisationen mehr Freiheiten bei der Gestaltung ihres Systems, fordern aber zugleich ein höheres Maß an Eigenverantwortung. Im Mittelpunkt steht die Orientierung des Managementsystems an den erwarteten Ergebnissen, eine systematischere Auseinandersetzung mit den Risiken (darunter Chancen), die stärkere Rolle der Führung und die Erkenntnis, dass das spezifische Wissen der Organisation eine wertvolle Ressource (neben dem Wissen der Mitarbeitenden) ist. Diese Neuerungen stellen für viele Unternehmen als auch die Trainings-, Beratungs- und Begutachtungs-Organisationen wesentliche Veränderungen dar.

Bei den DGQ-Veranstaltungen zur Normenrevision 2015 zeigen die Anwender einander auf, welche Erfahrungen sie mit der Kontextanalyse, dem risikobasierten Ansatz, der konsequenteren Prozessorientierung, der Identifikation interessierter Parteien und den größeren Freiheiten in Bezug auf die Dokumentationsanforderungen gemacht haben. Die Gesamtschau nach einem Jahr lässt viele in der QMunity mit gemischten Gefühlen zurück.

  • Wie ist denn das gemeint?
  • Was will der Auditor sehen?

An solchen Fragen zeigt sich die extrinsische Motivation mit Normen zu arbeiten oft deutlich. Technische Regeln werden so wenig hinterfragt, dass die erreichte Verlässlichkeit oft schon aus dem Bewusstsein gefallen ist (DIN A 4 Papier passt eben in den Drucker und in den B4-Umschlag, jener in die Zustellertasche und in den Briefschlitz – das ist der Arbeit nach der Norm zu verdanken, keinem Naturwunder).

Die Managementsystemnormen werden in einer zunehmend iterativ agierenden Welt als irgendwie fremdartig, hintergründig, geheimnisvoll wahrgenommen. Viele Menschen sind es im Alltag nicht mehr durchgehend gewohnt, eindeutig zu kommunizieren, verbindlich zu formulieren, systematisch und konsequent zu handeln.

In der Einleitung der ISO 9001:2015 heißt es unter Änderungen f)

im Zusammenhang mit Rollen, Verantwortlichkeiten und Befugnissen in der Organisation wird der „Beauftragte der obersten Leitung“ für das Qualitätsmanagementsystem nicht mehr explizit gefordert; diese Aufgaben sind an die oberste Leitung übergegangen.

Das fällt schwer, nicht zu verstehen. C) Dritter:

die Forderung nach einem Qualitätsmanagementhandbuch ist entfallen;

Ja. Genau. Braucht’s dafür extra Seminare? Einmal um die Ecke denken müsste man (aber wirklich nur einmal) bei der Änderung

durch die Formulierung der Anforderungen erübrigt sich die bisherige Option, bestimmte Anforderungen als „nicht zutreffend“ auszuschließen (siehe 4.3);

In 4.3. heißt es dazu:

Die Organisation muss die Grenzen und die Anwendbarkeit ihres Qualitätsmanagementsystems bestimmen, um dessen Anwendungsbereich festzulegen.

Der Anwender hat also die Möglichkeit bekommen, den Geltungsbereich seines Managementsystems selbst festzulegen. Folglich braucht es hintendran nicht die Möglichkeit, aus dem selbst festgelegten etwas als nicht zutreffend zu entfernen.

Form schlägt Inhalt – Der Auditor wollte das so haben

Wenn solch klare Formulierungen Stoff für abendfüllende Veranstaltungen bieten, muss das einen Grund haben. Den finden wir in der jahrzehntelangen formalen, fast katechistischen Normen-Auslegung – auch durch beratende und begutachtende Instanzen.

Es gibt in ISO 9000:2015 gar keine Definition für Chance? Muss es auch nicht, diese Art Unsicherheit ist ein Risiko wie alle anderen (mit schönem Ausgang – aber eben unsicher).

Mit Organigrammen kann man Zuständigkeiten beschreiben – aber die Norm fordert doch kein Organigramm. Mit Kennzahlen kann man Performance messen – aber die Norm fordert keine Kennzahlen.

Den Anwendern werden seit 1985 X‘ für Us anberaten und in Feststellungen geschrieben – wobei man sich fragt, wer Henne, wer Ei ist. Die Beratungspraxis folgt dem Dogma ‚formal sicher durch’s Audit‘, die Zertifizierer schreiben einmal gesehenes erst als ausreichend, dann als erwartet, dann im Prüfplan als notwendig fest. So kommt der Inhalt in eine Form, dann wird die Form mit dem Inhalt gleichgesetzt, irgendwann ist die Form an Stelle des Inhalts getreten. Nur so ist der beliebte Stempel ‚erstellt, geprüft, freigegeben‘ bis in kundenseitige Dokumente gelangt, nur so ist im Gegenzug Verzicht auf (die in Office-Anwendungen mitgelieferte) elektronische Dokumentenlenkung und Versionierung zu erklären.

Mehr davon? Oder etwas gänzlich Neues?

Kein Wunder, das geübte Normenleser die (inzwischen im Draft-Stadium befindliche) ISO TS 9002 ‚Leitfaden für die Anwendung von ISO 9001‘ für entbehrlich ansehen, viele aus n-ter Hand informierte sie aber für absolut wünschenswert halten. Aber wird, wer die ISO 9001 nicht gelesen hat, die TS 9002 lesen? Oder erhofft man sich noch kleinschrittigere Spiegelstrichaufzählungen, die man in die eigene Managementdokumentation übertragen kann? Dieses Vorgehen ersetzt weithin die eigene Analyse – führt aber im Ergebnis zu nichtsagenden (wenn auch formal korrekten) Ergebnissen. Kein Wunder, dass es bis in Fachkreise heißt, die Zertifizierung nach Managementsystemnormen sei formale Systembefriedigung ohne Mehrwert.

Die Zertifizierungsgesellschaften bereiten ihre Kunden unterschiedlich auf die Transition vor. Man hört von bis zu 45-seitigen Checklisten zur (rein formalen?) Vorarbeit bei den Ingenieurdienstleistern, Delta-Audits oder echten Bereitschaftsbewertungen. Aussagen von Auditoren schwanken zwischen ‚da ändert sich nichts‘ bis ‚oha, vergessen Sie alles, was sie bisher gehört haben, da kommt was auf Sie zu‘. Und das trotz der akkreditierungsseitig vorgegebenen Trainings der Auditoren – die aber in großer Zahl ihre berufliche Sozialisation vor 15, 20, 25 Jahren hatten (und wie die Auslegung der 94er Elementenorm war, erinnern ja noch viele). Die QMunity hat wieder damit zu rechnen, dass oft die schmalste Auslegung, verbunden mit rein formeller Erfüllung den sinnvollen Umgang mit den neuen Managementsystemnormen konterkarieren.

Konformität – ein Nebenprodukt

Haben Sie schon einmal Druckerpapier nachgemessen? Nein? Wohl, weil das Format auch so seinen Zweck erreicht (höchstens der Briefzusteller hat schon mal wegen Ihres aus dem USA-Urlaub mitgebrachten Kastens gemeckert- aber nur leise, der ist ja bezahlter Lieferant). In den Normen steckt im Konsensverfahren zusammengetragenes Erfahrungswissen. Erfahrene Fachleute sagen uns, es sei besser, den internen und externen Kontext der Organisation zu kennen, die Anforderungen der relevanten Interessengruppen zu analysieren und zu beobachten, bevor man losarbeitet. Echt. Nicht in irgendwelchen Listen, die man aus Beispielen abkupfert, sondern die eigenen, die wirklichen. Welche Faktoren beeinflussen uns denn beim Erreichen der geplanten Ergebnisse? Das verdient eine Betrachtung. Sie legen den Geltungsbereich für Ihr Managementsystem selbst fest. Nicht, um anspruchsvolle Dinge ausklammern zu können, die in Wahrheit für die Kundenbeziehung entscheidend sind (Entwicklung? Nie gehört…). Sondern, damit der Chemiekonzern seine 2% Betriebsakademie-Aktivitäten anders führen kann, als die Waschmittelproduktion. Diesen Geltungsbereich füllen wir mit einem System beherrschter Prozesse. Diese sind auf das geplante Ergebnis hin zu steuern (und das meint nicht ‚treiben lassen‘) – und was man dafür tatsächlich braucht, ist nachzuweisen. Intern. Und den Stakeholdern gegenüber.

DIN A4 wird nicht dadurch ‚konform‘, dass man auf ein beliebiges Stück Papier schreibt 21×30 sondern durch Tatsachen.

Und letztlich (und das ist nicht primär) auch dem Auditor. Die Dokumente sind so zu erstellen, zu lenken und zu überarbeiten, dass die Kollegen damit fehlerfrei arbeiten können, sie finden – und wiederfinden. Und wenn das angemessen und wirksam ist, ist es auch konform. Mess- und Prüfmittel sind so zu handhaben, dass alle daran Interessierten (der Kunde, wir – aber manchmal auch der Gesetzgeber) darauf vertrauen können – und dann ist es auch konform. Die Menschen in der Organisation kennen die Strategie und die (von ihnen mit-)verfolgten Ziele – prima, dann ist es auch konform. Sie betrachten das spezifische Wissen der Organisation als wertvolle Ressource? Super, dann sind sie auch nicht gefährdet, wenn sich am Personenstamm etwas ändert (und nebenher ist es auch noch konform!). Sie prüfen die Machbarkeit vor einer Verpflichtung durch verbindliche Angebote? Sie planen die Entwicklung in Phasen mit Freigaben nach dem geprüft wurde, dass das Ergebnis den Zielen und dem Einsatzzweck gerecht wird? Dann sparen Sie auf dem Weg von 1000 Ideen über 100 Projekte, zu 10 möglichen und 1 marktgängigen Produkt einen Haufen Geld (und es ist auch noch konform). Sie schauen auf dem Weg immer mal, ob Sie sich noch auf das Ziel zubewegen, greifen ansonsten ein? Das nenne ich Alltagsverstand (und es ist auch noch …).

Das zu diskutieren, in regen Austausch darüber zu gehen, das bisherige Qualitätsverständnis in Frage zu stellen, zu reiferen Ergebnissen zu kommen ist der beste Nebeneffekt der Normenrevision. So wie von jedem Arbeitnehmer gefordert wird, seinen Beitrag zum Erreichen der Unternehmensziele zu kennen, wird es auch von den Menschen in den Managementsystemen gefordert. Wenn die es selbst nicht wüssten – wie sollen es die Kollegen, wie der Chef, der Inhaber wissen? Wenn wir den Beitrag systematischer und konsequenter Arbeit im Regelkreis zur Performance-Steigerung kennen wird er auch von interessierten Parteien, gar den Kunden der Managementsystemprozeduren, zu erkennen sein.
Das Nebenprodukt Konformität brauchen weder der Auditor noch der Zertifizierer: Es gehört zu unserem Leistungsversprechen an den Kunden, der sich darauf verlassen können will. Natürlich könnte man (diese wie andere) Kundenanforderungen als ‚Quatsch‘ abtun oder nur formal erfüllen. Aber war nicht der Kunde der einzige, der zählt, weil er der einzige ist, der zahlt?

Im täglichen Leben (Straßenverkehr, Geldanlage, Beziehungen…) verhalten sich Freiheit und Sicherheit oft umgekehrt proportional. Bei der Normeninterpretation bieten Einleitung und Anhänge hingegen das Rüstzeug, die Freiheiten nutzen und dennoch Konformität sicher behaupten zu können. Ihr Managementsystem: ein konsistentes System beherrschter Prozesse, um im definierten Anwendungsbereich das geplante Ergebnis (die Anforderungen der relevanten interessierten Parteien auf Dauer zu erfüllen) mit (für eine Geschäftsbeziehung) hinreichender Sicherheit erreichen zu können. Das setzt konsequente, systematische Arbeit im Regelkreis voraus, wobei (Zehnerregel) der Schwerpunkt der Anstrengungen im Schritt ‚Plan‘ erfahrungsgemäß am wirksamsten ist (auf den die Kapitel 4-7 der Normen nach HLS entfallen). Zum Schritt ‚Plan‘ gehören demnach auch die Rollenverteilung, die Risikobetrachtung, der geplante Ressourceneinsatz. Do (8), Check (9) und Act (10) sind mit Alltagsverstand kaum zu mißinterpretieren. Nur: gelesen haben müsste man die Norm dazu schon. Selbst. Eigentlich. Na dann…

Über den Autor: Kai-Uwe Behrends

Kai-Uwe Behrends ist seit 2005 Leiter der DGQ-Landesgeschäftsstelle Nord in Hamburg. Vorher war der studierte Diplom-Volkswirt und -Sozialökonom Fachbereichsleiter und Qualitätsmanagement-Beauftragter einer Bildungseinrichtung mit 100 Mitarbeitern. Er ist Auditleiter der DQS für ISO 9001 und AZAV.

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