Industrie 4.0 – was geht mich das an?17 | 09 | 15
Ja, was ist überhaupt Industrie 4.0? Viele, die hauptberuflich mit Qualität befasst sind, also – klassisch – „hinten“ in der Prozesskette messen, prüfen und bewerten, können mit Industrie 4.0 bislang nicht viel anfangen. Vorgängermodelle, die schon Jahrzehnte oder noch weit mehr auf dem Buckel haben, sind zwar einigermaßen bekannt, inzwischen aber beinahe schon wieder Geschichte: Industrie 2.0 (Fließband), Industrie 3.0 (Roboter am Fließband). Wie geht die „QMunity“ mit Neuerungen um? Die Schwierigkeit besteht darin, eine zunächst nur proklamierte industrielle Revolution in ihren Auswirkungen einzuschätzen. Wer hier voran gehen will, sollte wissen – oder wenigstens ahnen – wohin. Aber: Wem von uns sind cyber-physikalische Systeme eigentlich schon einmal begegnet? Gibt es die überhaupt schon oder ist das alles nur Marketing- oder bestenfalls Wirtschaftsförderungssprech (der Bundesregierung, da wäre immerhin was dran)?
Das Gras wachsen hören
Die Frage könnte auch lauten: „Wo stehen wir heute und wie haben wir das erreicht?“ Wie haben sich Dampfmaschinen, Elektrizität, EDV in der Vergangenheit durchgesetzt – etwa durch Hebel umlegen auf der Hannover-Messe? Es hat schon seine Zeit gedauert, bis selbst in den Industrienationen, Unternehmen aller Branchen und Größen von den jeweiligen Errungenschaften erreicht wurden. Und wie ist es im eigenen Betrieb? Zitat: „Nun, wir schauen halt bei jeder Investitionsentscheidung, welche neuen Techniken zu berücksichtigen sind – das muss wachsen.“ Wachsen, immer nur wachsen? Ist etwa das IPad gewachsen oder das Geschäftsmodell von Amazon (über das man ansonsten trefflich streiten kann)?
Der „Auftrag“ des Qualitäters war seit jeher, Bestehendes zu optimieren, nur: Das Motto „immer besser Hühner einfangen“ hilft eben häufig nicht mehr weiter, da muss dann ein Zaun her! Die mutige Entscheidung für den Zaun setzt allerdings Erkenntnis, Willen und Abwägung voraus. Dummerweise werden Nichtentscheider und Aussitzer durch das (durchaus mögliche) Scheitern der Mutigen aber noch bestätigt.
Sensible Ohren können sie bereits hören, die US-Kongressabgeordneten: „Ihr Deutschen habt zwar die Maschinen, wir Amerikaner aber die Geschäftsmodelle.“ Ob Ingenieure, Industrieromantiker oder Qualitäter: Sie alle haben ihre Schwierigkeiten damit, dass Firmen mit drei Mitarbeitern und überschaubarer Kundenzahl für Milliarden US-Dollar über den Tisch gehen. Natürlich, IT-Know-how ist ein „immateriell‘ Ding“, aber Papiergeld wurde auch lange Zeit skeptisch beäugt. Schwachstromdurchflossene Magnetkrümel auf metallbedampften Plastikscheiben zur Bezahlung ebenfalls – wenn auch nicht ganz so lange.
Jetzt also Industrie 4.0
Als Industrie 4.0 wird seit drei Jahren ein Projekt der Bundesregierung und Teilen der Industrie bezeichnet, das auf totale Vernetzung und Durchdringung der Fertigungsprozesse mit Informationen zielt. Die unmittelbare Einbeziehung der Bedürfnisse von Kunden und Geschäftspartnern steht dabei neben vielen weiteren Aspekten im Mittelpunkt. Am (allerdings noch fernen) Horizont winkt die „intelligente Fabrik“. Als technologische Basis fungieren cyber-physikalische Systeme in Verbindung mit dem so genannten „Internet der Dinge“ – also vom Sensor ins Netz, wenn man so will. Dieses Modell bedingt einen neuen Typus von Prozessen, der einen ebenso neuen Blick auf das Thema Qualität erfordert.
„Digitalisierung der Geschäftsprozesse“ heißt ein Bestandteil der proklamierten Revolution. Die EDV, einst als Beschleuniger, Unterstützer und Kostensenker etabliert, steuert (steuert!) heute zunehmend die Geschäftsprozesse. Und unser Alltag als Endkunde? Durchdigitalisiert. Erfolgreiche Kfz-Hersteller bauen nicht mehr auf Vorrat, sondern auf Bestellung: „One-Piece-Flow“ und „Just-in-Sequence“ heißen die Schlagwörter. Bei einem großen Berliner Motorradhersteller kann man seine Konfiguration noch bis 14 Tage vor der Auslieferung beliebig verändern. Alle dahinterliegenden logistischen Prozesse ziehen annähernd in Echtzeit nach.
Auch unser Alltag als B2B-Kunde ist bereits auf dem Weg dorthin:
- Flurförderzeug-Hersteller bieten inzwischen vergleichbare Konfigurationsmöglichkeiten an, inklusive Perleffektlack und „gebrandeter“ Keyless-Schlüssel – für einen Gabelstapler.
- Kunden wollen während der Geschäftsanbahnung sehen, wie sich Veränderungen auswirken, auf das Aussehen, den Preis, die Lieferzeiten etc.
- Maschinenbauer im Vertrieb sehen sich nicht mehr mit Lasten- bzw. Pflichtenheften konfrontiert, sondern mit dem Wunsch, das angebotene Aggregat in 3D am Bildschirm drehen zu können.
Spätestens dann ist eine durchgehende Datenkette von der Entwicklung über die Konstruktion und den Vertrieb in die Produktion vonnöten. Dazu kommt: Der B2B-Kunde ordert zunehmend „Betrieb/Bereitstellung/Yield“ – und nicht mehr ein Gebrauchsgut. Ihr Wettbewerber verkauft inzwischen weniger, als er verleast? Pfiffig! Selbst die Schaltschränke der Belüftung im St.-Gotthardt-Tunnel sind für 10 Jahre „garantiert bereitgestellt“, inkl. Wartung und Managementsystemleistung.
Big oder smart Data?
Sensoren werden preiswert, leistungsstark und vielfältig. Die anfallenden Daten werden von immer stärkeren Rechnern bearbeitet.
- In der QZ häufen sich Berichte wie „100-Prozent-Prüfung endlich wirtschaftlich möglich“.
- Selbst Bäckereien haben Algorithmen auf Wettervorhersagen rechnen lassen, ebenso Drogerie-Märkte oder die Bahn. Immer geht es darum, den Absatz vorherzusehen und Bestände/Logistik zu optimieren.
- Pharmahersteller nutzen lieber Suchanfragen bei Google (Was tun bei Grippesymptomen?), als das Gesundheitsamt nach der Anzahl gemeldeter Fälle zu befragen.
- Der „digitale Zwilling“ als Draufgabe wird beim Maschinenbau obligat.
- Großreeder produzieren auf diese Weise benötigte Ersatzteile per 3D-Drucker selbst – auf hoher See!
Mancher Kreuzfahrttourist oder Weiterbildungsteilnehmer wird heute mehr und mehr zum wandelnden Datenträger, nur: Was tun mit den gesammelten Daten? Wer legt die Grenzwerte fest, wer den Korridor, innerhalb dessen eine Maschine „entscheidet“ oder künstliche Intelligenz „lernt“? Kennen Sie jemanden, der Statistik ohne Excel kann? Wetten, er hat ein Q in der Job-Beschreibung?
Megatrend – und die konkrete Arbeit?
IT ist vielerorts inzwischen kritische Infrastruktur. Prozessmanager und vor allem Prozessmanagement-Softwareverkäufer klagen, dass es in den Betrieben zu wenige kundige Ansprechpartner gäbe. Okay, es werden kaum noch E-Mails ausgedruckt, um anschließend eingescannt zu werden, damit man sie an die andere EDV-Applikation (z. B. Buchhaltungssoftware) hängen kann. Aber die Monatsabschlüsse der vor zehn Jahren gekauften Tochtergesellschaft werden vielleicht doch noch mit den Monatsabschlüssen der vor fünf Jahren gekauften Tochter über einen gigantischen (und gigantisch teuren und fehleranfälligen) EDV-Weg mit den Muttergesellschaftsdaten konsolidiert.
Da hat in der Kaffee-Etage wieder mal was nicht funktioniert. Oder haben wir im internen Audit einfach darüber hinweggesehen? Und: Haben Sie in der Halle nicht auch noch Medienbrüche? Wie kommen Konstruktionsdaten (und deren Änderung nach Kundenterminen) bis in die CNC- oder Spritzguss-Steuerung? Wie fließen Messwerte aus der Produktion zur QS, wie die Felddaten des Vertriebs in die Entwicklung zurück? Per Hand? Oder gleich gar nicht? Wessen Job ist es, dafür zu sorgen, dass Prozesse beherrscht werden, Leistungsindikatoren vorhanden und bewertet sind, über notwendige Verbesserung berichtet wird? Brauchen wir dazu einen extra 4.0-Beauftragten?
Qualitätsmanager 4.0
Viele ITler sagen: „Ich stell‘ die Kisten auf, aber ab der Steckdose bin ich nicht mehr zuständig.“ Viele Qualitäter reclaimieren die Prozesse für sich, verweigern sich aber gegenüber EDV-Fragen; oder sie werden wegen unterstellter IT-Inkompetenz gar nicht erst gefragt. Es fehlten Leute mit der Kompetenz, EDV jeglicher Art zu implementieren. Das gilt schon bei der Hardware: Auf einmal haben die Mitarbeiter Tablets im Maschinenhaus. Busfahrer beim Verkehrsverbund gehen nicht mehr in die Meisterbude des Betriebshofes, um Fahrzeug, Tour und Umleitungen abzufragen, sondern bekommen diese Infos während der Fahrt zur Arbeit auf ihr Smartphone.
Stärker noch sind Implementierungsexperten gefordert bei der Auswahl von Prozessmanagement- oder CRM- Software. Das muss vom Prozess her geschehen, muss alles von der Praxis geforderte abbilden können:
- Ja, drei Umsatzsteuervoranmeldungen D/A/CH.
- Ja, ein Kunde kann auch Lieferant mit noch einmal abweichender Rechnungsadresse sein.
- Ja, ein Putzdienst oder Freiberufler muss eine Lieferantennummer (und später Geld) bekommen können, ohne die AGB zu Kran- und Lokomotiven-Zeiten des Stahlwerks zu unterzeichnen.
- Ja, an der Schnittstelle Pflege/OP überlappen sich Prozesse, Verantwortung und Kennzahlen …
Schlicht gesagt: EDV muss sich den Prozessen anpassen, nicht umgekehrt. Hier ist die QMunity konkret gefordert. Es gilt, die interessierten Parteien und deren Forderungen in der Veränderung zu erkennen, die betroffenen Prozesse zu gestalten, die erwarteten Ergebnisse, ihre Risiken und deren Beherrschung und davon abhängig die benötigte dokumentierte Information zu diskutieren. Das ist systematisch, konsequent und mit Alltagsverstand umzusetzen – das ist QM. Na, dann …
Über den Autor: Kai-Uwe Behrends
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