Was POLICY und POLITIK evtl. (nicht) gemeinsam haben14 | 06 | 16

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Der letztes Jahr verstorbene Harry Rowohlt war ein Meister darin, die oft herrliche Melancholie vor allem irischer Literatur samt ihrer ausgeprägten Skurrilität ins Deutsche zu schaffen, und zwar ohne die Werke von Autoren wie Flann O’Brien auch nur ansatzweise zu verhunzen. Er hat dabei noch jede höchst alkohollastige Redewendung so zielsicher in eine deutsche Sinnentsprechung übertragen, dass die Botschaft des Autors (selbst wenn der gar keine hatte) beim Leser wirklich ankam. Das ist natürlich große Kunst!

Auch die deutschen Versionen von ISO-Normen sind bekanntlich allesamt Übersetzungen englischer Originale. Die Aufgabe (nicht die Herausforderung!) besteht auch hier in der sinnvollen Übertragung allerdings gänzlich unschuldiger englischer Wörter, Begriffe und Formulierungen ins Deutsche, jedenfalls wie es der Intention der Autoren entspricht und nicht formal Wort für Wort dem Wörterbuch entnommen.

Nun sind Normen natürlich keine Romane, da darf man als Übersetzer nicht den Freischwimmer nachholen wollen, sondern sollte lieber nah am Original bleiben – aber nicht unbedingt sklavisch! Da sind u. a. kulturelle wie historische Sichtweisen ebenso zu berücksichtigen wie sprachliche Eigenheiten; dazu gehört wesentlich die Tatsache, dass eine ganze Reihe englischer Wörter keine deutsche 1:1-Entsprechung hat und umgekehrt, also wechselnde Bedeutungen ein und desselben Wortes je nach Satz- resp. Sinnzusammenhang vorliegen. Aber das ist ja überhaupt nichts Neues.

Der Klassiker

Ohne jetzt die olle Kamelle aus dem Ende des letzten Jahrtausends noch einmal vollumfänglich aufwärmen zu wollen: Wir wissen doch alle, dass die Autoren von ISO 9001:2000 damals (und auch schon zuvor) mit requirement natürlich nicht Anforderung gemeint hatten, sondern Forderung. Zwischen den beiden Wörtern liegen im Deutschen wahre Bedeutungswelten. Im Englischen verwendet man für beide Bedeutungen eben nur dies eine Wort; englische Muttersprachler erkennen mühelos allein aus dem Kontext, ob mit requirement das eine oder das andere gemeint ist – oder noch etwas ganz anderes. Wir übrigens auch.

Policy – Politik: keine gute Wahl

Jetzt also zur Sache. ISO 9001:2015 – 5.2 Politik, 5.2.1 Festlegung der Qualitätspolitik: „Die oberste Leitung muss eine Qualitätspolitik festlegen, umsetzen und aufrechterhalten, die …“ Ist hier wirklich Politik gemeint, wie wir Politik im Deutschen verstehen? Im Original heißt es: “Top management shall establish, implement and maintain a quality policy that …” Im ersten Moment klingt die Übersetzung nicht schlecht, das Wort Qualitätspolitik ist schließlich ein geläufiger Bestandteil der Q- und Unternehmenssprache, man hat sich daran gewöhnt und man weiß eventuell (eventuell!) recht sicher, was gemeint ist.

Würde man hier den Wortbestandteil -politik aus gutem Grund durch -strategie ersetzen, käme das Wort Qualitätsstrategie heraus. Der erste Unterpunkt 5.2.1.a „… für den Zweck und den Kontext der Organisation angemessen ist und deren strategische Ausrichtung unterstützt;“ würde positiv verändert: Eine Qualitätsstrategie würde dann die strategische Ausrichtung der (ganzen) Organisation unterstützen. Trifft das die Intention des Originals nicht deutlich besser?

Und wie definiert die u. a. für Begriffe zuständige Norm ISO 9000:2015 das Wort (Qualitäts-)Politik? 3.5.8 / 3.5.9: „Absichten und Ausrichtung einer Organisation (zur Qualität), wie von der obersten Leitung formell ausgedrückt.“ In der Anmerkung 1 zum Begriff heißt es dann: „Üblicherweise steht die Qualitätspolitik mit der übergeordneten Politik der Organisation in Einklang, sie kann der Vision und Mission der Organisation angepasst werden und bildet den Rahmen für die Festlegung von Qualitätszielen.“ Hört sich doch viel mehr nach Leitlinie resp. Strategie an, was vielerorts verständlicherweise auch als passender empfunden wird.

Was heißt policy überhaupt?

Das Wort policy heißt auf Deutsch durchaus so etwas wie Politik, das englische Wort trägt aber nur eine von drei Facetten des deutschen Wortes. Nämlich eine normative, auf bestimmte Themen ausgerichtete (ggf. politische) Auseinandersetzung z. B. mit Programmen, gestellten Aufgaben und formulierten Zielen, der Verteilung von Mitteln dafür etc. Die anderen beiden Facetten von Politik sind das prozessual zu verstehende politics, was folgerichtig die politischen Prozesse und Verfahren (z. B. Wahlen, das Durchsetzen von Interessen etc.) meint und das institutionelle polity, das auf politische Strukturen abhebt (Parlament, Regierung, Gesetze etc.).

Policy trägt – schwer zu leugnen – klare Züge der Bedeutung von Strategie, es weist auf etwas hin, was man als eine Art Plan (oder gern auch Leitlinie) für Handlungen verstehen kann, mit denen Ziele erreicht werden sollen/können. So gesehen sollte es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Politik in der Bedeutung policy und dem Wort Strategie resp. Leitlinie geben.

Warum sagt die Norm Politik und nicht Strategie oder Leitlinie?

Man weiß es nicht sicher. Vielleicht wird Strategie deshalb nicht verwendet, weil das Wort in diesem Zusammenhang schlicht nicht gewünscht ist oder bereits anderweitig belegt ist? Letzteres gibt es durchaus; z. B. bei dem etwas verquasten Fachexperten, der in der Übersetzung der Originalversion von ISO/IEC 17021 den hierzulande behördlich schon vergebenen Sachverständigen ersetzen muss.

Und ersteres gibt es (vielleicht) auch: Wie war das noch gleich mit der Entscheidung für die Anforderung zu Ungunsten der Forderung? Damals spross allenthalben der Verdacht, dass man Organisationen das knüppelhart-fiskalisch Anmutende der Forderung ersparen und die Erfüllung der Vorgaben der Norm mithilfe einer sprachlich eher milden, jedenfalls unbelasteten, wenngleich unpassenden Anforderung näherbringen wollte. Das aber nur für die Spätgeborenen …

Sei’s drum! ISO 9000:2015 legt in Kapitel 3.5.1.2 immerhin fest: „Strategie – Plan für die Erreichung eines langfristigen Ziels oder Gesamtziels.“ Dann aber so etwas wie in Kapitel 2.3.2.2: „Das Schaffen einer Übereinstimmung von Zweck und Ausrichtung … ermöglichen einer Organisation, ihre Strategien, Politiken, Prozesse und Ressourcen zum Erreichen ihrer Ziele anzupassen.“ Politik im Plural! Kann denn eine Organisation mehrere (Qualitäts-)Politiken haben? Ist das qua definitionem nicht ausgeschlossen? Ist diese Übersetzung etwa eine Zwangshandlung? Und überhaupt: Policies, wie es im Original heißt, bedeutet im Plural ohnehin eine ganze Menge eine bestimmte Politik, Strategien, Taktiken, Richtlinien, Vorgehensweisen und was noch alles. Was sollen denn Politiken hier überhaupt sein? Und dann noch direkt neben den Strategien aufgezählt?!

Und die Leitlinien?

In ISO 9000:2015, Kapitel 2.4.2 wird das Wort Leitlinie genau einmal benutzt, aber nirgendwo definiert: „Ein Plan berücksichtigt alle qualitätsbezogenen Tätigkeiten der Organisation und stellt sicher, dass sie alle Leitlinien nach dieser Internationalen Norm und die Anforderungen nach ISO 9001 behandeln.“ Wenn man schaut, in welchem Zusammenhang das Wort Leitlinie in ISO 9001:2015 vorkommt, sieht man, dass es bereits vergeben scheint für etwas, was Normen enthalten und damit Organisationen etwas vorgeben, aber auf einer anderen Ebene als Anforderungen, die bekanntlich unmittelbar erfüllt werden müssen. Als Übersetzung für policy fällt Leitlinie insofern fast aus.

Vielleicht ist es aber einfach so: Die Übersetzer der Norm sind grandios an der Aufgabe gescheitert, die Konsequenz aus der in den angloamerikanischen Ländern schon lange üblichen Dreiteilung von Politik zu ziehen und policy angemessen ins Deutsche zu übertragen. Das mag daran liegen, dass es auch nach über 30 Jahren (als die deutsche Politikwissenschaft die amerikanische Sichtweise dankbar übernahm) noch immer keine wirklich griffigen deutschen Wörter für policy, polity und politics gibt.

Deutsche Normanwender deuten policy jedenfalls eher als Strategie denn als Politik, wie man hört. Und diese Deutung findet sich als Übersetzung in Wörterbüchern auch immer häufiger – und immer weiter vorn (Strategien entwickeln: to craft policies). Vielleicht ein Ergebnis der viel gepriesenen fortlaufenden Verbesserung?!

Über den Autor: Peter Blaha

Peter Blaha, geboren 1954 in Frankfurt am Main, ist freier Journalist mit Spezialisierung auf „Managementsysteme“ und „Weinwirtschaft“ und DGQ-Mitglied. Er widmet sich neben der Erstellung von Fachbeiträgen seit jeher (und mit Vorliebe) dem nach seiner Meinung oft viel zu wenig beachteten Phänomen unklarer bis kurioser Formulierungen und Schreibweisen in der deutschen (Q-)Sprache. Wer dabei eine gewisse Nähe zur Argumentation des bekannten Journalisten Wolf Schneider zu erkennen glaubt, liegt nicht ganz falsch.