„Viele denken, sie müssten den Mount Everest erklimmen – das ist unbegründet.“ Interview mit Hartmut Winkler zur Digitalisierung im QM16 | 09 | 21

Herr Winkler, was verstehen Sie unter dem Begriff Digitalisierung?

Digitalisierung ist ein Buzzword, das meines Wissens nicht einheitlich definiert ist. Die Frage ist: Was zeichnet ein digitales Unternehmen aus? Im Grunde genommen stellt die Digitalisierung eine Erweiterung der „Automatisierung“ dar, von der reinen Prozessebene der Fertigung in die Prozessebene der übrigen Unternehmensprozesse.

Digitalisierung ist das automatische Erfassen, Übertragen, Sichern und Auswerten von Daten, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Für mich ist Digitalisierung das automatische Erfassen, Übertragen, Sichern und Auswerten von Unternehmens- und Marktdaten, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wenn die eingesetzten Systeme, wie z. B. ein CAQ-System, automatisch Maßnahmen anhand gewonnener Daten durch Nutzung von Künstlicher Intelligenz einleiten, kann man die Qualitätssicherung (QS) als „digital transformiert“ bezeichnen. Digitalisierung ist somit Grundlage, quasi die Vorstufe, der „Digitalen Transformation“ eines Unternehmens oder einer Abteilung.

Warum denken Sie, dass sich Beschäftigte in QM und QS jetzt mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen sollten?

Es gibt zahlreiche Argumente, warum sich Unternehmen mit Digitalisierung befassen sollten. Die Kundenanforderungen im B2B als auch im B2C-Bereich verändern sich.

Die Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen hat erstens stark zugenommen und erfordert ein hohes Maß an Prozesssicherheit. Stellen Sie sich vor, ein Online-Shop, der Tassen bedruckt, hätte die erforderlichen Daten, wie kundenindividuelle Motive, Typ der Tasse, Platzierung des Motivs auf der Tasse usw. nicht in digitaler Form vorliegen. Das Geschäftsmodell würde vermutlich aufgrund des hohen Aufwands nicht funktionieren. Und die Sicherung der Qualität wäre deutlich aufwendiger.

Zweitens steigt der Wettbewerbsdruck in den letzten Jahren insbesondere im B2C-Bereich massiv an, da Kunden durch das Internet überall Informationen zu der Qualität von Produkten einholen können. Es gilt nicht nur ein qualitativ einwandfreies Produkt herzustellen, sondern dieses auch möglichst günstig anzubieten. Digitalisierung in der QS kann z. B. durch automatische Prüfungen und automatische Prozessüberwachung Kostenvorteile schaffen, die an die Kunden weitergegeben werden können.

Die Digitalisierung vereinfacht das Leben von Kunde und Lieferant und reduziert nicht wertschöpfende Tätigkeiten.

In der Industrie kann der manuelle Aufwand zur Pflege des QM-Systems reduziert werden, z. B. durch digitales Dokumenten- und Prüfmittelmanagement, oder die automatische Einstellung bzw. Aufzeichnung und Auswertung von Prozessparametern. Im Prinzip können alle Daten, die für die Produktion notwendig sind, automatisch aufgenommen, verarbeitet und sauber aufbereitet präsentiert werden und das mit weniger Einsatz menschlicher Arbeit. Das lässt sich auch auf Dienstleistungen übertragen.

Sowohl im B2B als auch im B2C-Bereich können durch ein digitales Qualitätsmanagement bzw. digitale QS Serviceleistungen vereinfacht und automatisiert angeboten werden, so z. B. beim Reklamationsmanagement. Das vereinfacht das Leben von Kunde und Lieferant und reduziert nicht wertschöpfende Tätigkeiten.

Ich behaupte, wenn alle anderen Unternehmen um einen herum voll digitalisiert sind, dann hat man keine Chance bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit mitzuhalten.

Was glauben Sie, warum Digitalisierungsprojekte scheitern oder erst gar nicht gestartet werden?

Viele Unternehmen haben beim Gedanken an Digitalisierung das Gefühl, Sie müssten den Mount Everest erklimmen. Das ist unbegründet.

Ich denke, dass viele Unternehmen, wenn Sie an Digitalisierung denken, das Gefühl haben, Sie müssten den Mount Everest erklimmen. Doch das Gefühl ist unbegründet. Wird ein Prozess digitalisiert, zieht das natürlich weitere Prozesse nach sich, die im Status quo in der Form nicht vorhanden waren. Dazu gehören unter anderem die Organisation von Softwareupdates, Datensicherung, Zugriffskontrollen und weiteres. Aus Gesprächen mit Kunden weiß ich, dass viele Geschäftsführer oder Unternehmer durch diesen Aufwand abgeschreckt sind.

Oftmals ist die oberste Leitung eines Unternehmens aber auch nicht bereit, Geld zu investieren und verbleibt im Status quo. Doch die Erde dreht sich weiter. Die Unternehmen sollten die aufkommenden Technologien aufmerksam beobachten. Man sollte sich als Geschäftsführer stets ins Gedächtnis rufen, dass zahlreiche Unternehmen durch die Digitalisierung bereits bedroht sind – Videotheken, klassische Versandhäuser und analoge Fotoentwicklung sind nur einige Beispiele. Ich glaube sogar, Videotheken gibt es in Deutschland keine einzige mehr.

Letztendlich kann nur ein gezieltes Risikomanagement mögliche technische Bedrohungen wahrnehmen. Jedes Unternehmen sollte rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um am Markt bestehen zu können.

Wie können Geschäftsführende oder Vorgesetzte von der Notwendigkeit der Digitalisierung überzeugt werden?

Als junger Lehrgangsteilnehmer habe ich mal einen QM-Trainer kennengelernt. Wir diskutierten über die Frage, wie man zu Budget für interne Prozessverbesserungen kommt. Der Trainer sagte mir damals, wenn wir als Qualitätsmanager ein Budget für Veränderungen oder neue Werkzeuge brauchen, dann müssen wir die Vorgesetzten davon überzeugen, dass durch die Investition langfristig Geld eingespart wird. Ich denke, dass lässt sich auch auf ein Digitalisierungsprojekt anwenden. Der Nachweis dazu lässt sich z. B. durch Prognosen zu Produktivitätserhöhungen oder Störungsreduzierungen erbringen.

Wenn wir als Qualitätsmanager ein Budget für Veränderungen oder neue Werkzeuge brauchen, dann müssen wir die Vorgesetzten davon überzeugen, dass durch die Investition langfristig Geld eingespart wird.

Alternativ kann eine gesteigerte Qualität oder robustere Prozesse neue Märkte für das Unternehmen eröffnen. Hier ist die Kreativität der Unternehmensführung gefragt.

Welche Tipps können Sie Personen mitgeben, die mit einem Digitalisierungsprojekt starten wollen?

Wichtig ist, dass Unternehmen digitale Kompetenzen entwickeln. Das geschieht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein Prozess. Man sollte nicht zu hohe Erwartungen an das erste Digitalisierungsprojekt haben. Machen Sie sich einen Plan und starten Sie durch. Lernen Sie auf Ihrem Weg und werden Sie kontinuierlich besser.

Zweitens erfordert Digitalisierung eine gewisse Investition. Ist die oberste Leitung bereit zu investieren, sollte das Budget auch angemessen sein, so dass die notwendige Software, Hardware und Lizenzen darin berücksichtigt werden. Vorsicht ist bei günstiger Individualsoftware geboten und bei Dienstleistern, die sich am Markt nicht halten können. Nachträgliche Modifikation vorhandener digitaler Lösungen durch einen anderen Dienstleister ist teuer, sofern überhaupt möglich.

Ich sage zwar immer, man sollte einfach loslegen, aber ein Mindestmaß an Planung ist schon notwendig, z. B. bezüglich der Kompatibilität vorhandener Systeme, Datenformate usw. Auch das Thema Cybersicherheit, damit einhergehend Datensicherheit und Datenschutz, sollte berücksichtigt werden.

Jedes Unternehmen muss sich fragen: Welches Ziel verfolgen wir mit der Digitalisierung?

Wie bei jedem Projekt steht auch bei der Digitalisierung ein bestimmtes, sauber definiertes Ziel im Fokus, denn Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Die Frage, die sich jedes Unternehmen stellen sollte, ist, an welcher Stelle Digitalisierung für das Unternehmen Sinn macht, an welcher Stelle Ressourcen, also Zeit und Geld, eingespart werden können oder neuer Kundennutzen generiert werden kann. Die entscheidende Frage, die jedes Unternehmen für sich selbst beantworten muss, lautet daher: „Welches Ziel verfolgen wir mit der Digitalisierung?“

Mein Rat an alle Unternehmen, die bisher noch weitgehend analog arbeiten, lautet daher, sich mit aktuellen Technologien und moderner Software in der jeweiligen Branche auseinanderzusetzen. Vielleicht finden Sie am Ende des digitalen Regenbogens eine Schatztruhe. Was haben Sie zu verlieren?


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Über den Autor: Hartmut Winkler

Hartmut Winkler ist seit 2016 selbstständiger Unternehmensberater bei Q-Future mit den Schwerpunkten Qualitätsmanagement, Prozessoptimierung und Digitalisierung. Nach seinem Studium der Mechatronik arbeitete er über 10 Jahre im QM der Automobilindustrie und der Luft- und Raumfahrt. Seit 2014 ist er in der akademischen Lehre tätig. Er ist DGQ-Trainer für statistische Fähigkeitsnachweise und Prozessregelung. Seit 2018 ist er Mitglied im Team der DGQ-Regionalkreisleitung Frankfurt am Main.

2 Kommentare bei “„Viele denken, sie müssten den Mount Everest erklimmen – das ist unbegründet.“ Interview mit Hartmut Winkler zur Digitalisierung im QM”

  1. c010c704851d3bf603a10824811af057 Thomas Voss sagt:

    Guter Beitrag! Digitale Transformation ist zuallererst Mindset. Wie der Autor schon sagt: „Man muss nicht den Mount Everest besteigen“, doch klettern lernen hilft. D. h. nötige Kompetenzen entwickeln und konsequent in kleinen, kontinuierlichen Schritten umsetzen. Dann ist in Sachen Digitalisierung schon viel gewonnen.

  2. 63e79108409945147f12fd50eeada722 Thomas O sagt:

    Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Ich erlebe oft, dass sich Unternehmen beim Thema Digitale Transformation am Fusse des Mount Everest sehen. Ein Hindernis, von dem ich häufig höre, ist die Angst vor grossen Investitionen. Eventuell haben Unternehmen in den vergangenen Jahren „gelernt“, dass ein Wechsel des IT-Systems immer auch Investitionen in Hardware auf Anwenderseite zur Folge hat. Dabei ist Digitalisierung weniger eine Frage der Technologie, sondern der Einstellung. Diese zu ändern braucht Zeit und eine passende IT-Strategie hilft, bestehende Investitionen zu schützen und Fehlinvestitionen zu vermeiden.

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