Resilienz: Widerstandsfähigkeit aus der Pflege-Perspektive11 | 08 | 22
Resilienz ist ein Modewort. Obwohl es ursprünglich aus der Materialwirtschaft stammt, so ging die Vorstufe des aktuellen Hypes von der Psychologie aus. Sie definiert den Begriff als psychische Widerstandsfähigkeit. Es geht um die Fähigkeit von Individuen, Krisen zu meistern. Dazu müssen persönliche und gesellschaftliche Ressourcen mobilisiert werden. Der Begriff hat auch im Organisationsmanagement Einzug gehalten und wird mittlerweile auf Betriebe, ja sogar auf Staatsgebilde angewendet, siehe dazu den europäischen Plan zur Aufbau- und Resilienzfazilität, ARF, der zur Stärkung der Mitgliedsstaaten in den aktuellen Krisen dient (Bundestag, 2022).
Im Gesundheits- und Sozialbereich hat Resilienz seine in der Psychologie geprägte Bedeutung behalten. Das gilt auch für die Pflege. Faktisch dient das originäre pflegerische Handeln der Förderung persönlicher Resilienz. Es greift auf individuelle Ressourcen zurück, um Krankheiten und Krisen vorzubeugen und Defizite abzuwenden. Das Konzept ist hier stark mit dem Begriff Gesundheit verknüpft und umfasst alle ihre Facetten von der psychischen über die körperliche bis zur sozialen Dimension. Pflegehandeln dient also der persönlichen Resilienz der Pflegeklient:innen.
Man könnte daher bei pflegerischen Zielen von der individuellen Aufbau- und Resilienzfazilität sprechen. Das klingt akademisch, gemeint sind Maßnahmen, die Menschen in die Lage versetzen, gesund zu bleiben: Gesundheitsförderung. Dabei nutzt die Pflege vorhandene Kompetenzen – und zwar sowohl körperliche, als auch seelische – unter Einbeziehung sozialer Gegebenheiten und kognitiver Fähigkeiten der Klient:innen. Das ist ein ganz schön dickes Brett. Denn die Variablen, die das Geschehen beeinflussen, sind mannigfaltig. Aber Gesundheit ist nun einmal die Voraussetzung, um für Krisen gewappnet zu sein. Da unterscheiden sich Individuen nicht von Unternehmen: Ein gesunder Betrieb kann besser auf Herausforderungen reagieren, als ein Unternehmen, das sich ehedem in Schieflage befindet.
Die Pflegenden-Brille
Aktuelle Studien, Unternehmen und sogar die politische Agenda nehmen die Stress-Resilienz der Pflegenden in den Fokus (Mauritz, 2022). Das ist nicht verwunderlich. Denn schon zu lange häufen sich die Hinweise, dass Pflegepersonal hierzulande in einer dauerhaften Notlage arbeitet und dadurch Folgeprobleme entstehen. Insbesondere gilt das für die Altenpflege. Dort ist der Krankenstand so hoch wie noch nie und liegt 25 Prozent über dem Durchschnitt der Arbeitnehmer:innen in der Bundesrepublik (KKH, 2022).
Ganz vorn bei den Erkrankungen in der Pflege befindet sich das Burn-out-Syndrom, das eng mit einem Mangel an Stress-Resilienz verknüpft ist. Neben der Zahl der Erkrankten nimmt auch die Schwere und damit die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu. Dies richtet einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden an. Krankenkassen versuchen gegenzusteuern, indem sie gesundheitsfördernde Kurse anbieten, die speziell auf Pflegekräfte zugeschnitten sind und unter anderem die Stress-Resilienz verbessern sollen.
Die Klient:innensicht
Das Personal ist die eine Seite des pflegerischen Tuns. Auf der anderen Seite befinden sich Menschen, die pflegerischen Versorgungsbedarf haben. Das können Kranke sein, bei denen die Pflege einen Beitrag zur Genesung leistet. Dabei geht es im klassischen Sinne der Resilienz-Förderung um die Nutzung individueller Kompetenzen und Ressourcen, die zum Erreichen des Zieles, nämlich der Gesundheit – seelisch, mental, körperlich, sozial – aktiviert werden können. Dasselbe gilt für nicht kranke Menschen, die zum Beispiel im Alter über Ressourcen verfügen, die unter pflegerischer Anleitung zu einer Stärkung der Resilienz führen. Mobilisation ist so eine klassische Domäne der Gesundheitsförderung. Dabei werden nicht nur körperliche Ressourcen aktiviert. Bei der Bewegung gibt es mit der Freisetzung von Hormonen gleichzeitig auch eine psychische Anregung und insgesamt wird für Resilienz im Sinne der Krankheitsvorbeugung gesorgt.
Was gut klingt und eigentlich das fachliche Repertoire ausmacht, ist in Zeiten der „Rennpflege“ (Block, 2011) nicht mehr zu erbringen. Zwar gehören Prophylaxen in der Langzeitpflege wie auch in der Klinik zum Standard der Tätigkeit. Dabei wird aber aus Ressourcengründen in der Regel nur das vertretbare Minimum erbracht, um gerade noch die Anforderungen des mit dem Pflegekunden, beziehungsweise der Kasse vereinbarten Leistungskatalogs zu erfüllen. Die Gesamtsicht auf die Situation der Pflegekund:in fällt aus. Ein Fit-Machen für die Krise auf der Basis einer pflegefachlichen Diagnose, mit evidenzbasierten Interventionen und einer hinreichenden Zieldefinition ist in der heutigen Zeit aufgrund der Rahmenbedingungen nicht zu erbringen.
7 Säulen für die Resilienz der Pflege
Aus der Resilienz-Perspektive verpuffen in der Pflege also die knappen Ressourcen, ohne mehr Nutzen zu stiften. Die zugrundeliegenden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen werden allseits beklagt. Die Änderungsbemühungen sowohl für Pflegende, als auch für Leistungsempfangende laufen jedoch häufig ins Leere. Diese Perspektive birgt aber auch eine Chance, wenn die Pflege sie sich zu eigen macht und als Blickrichtung für Verbesserungen nutzt.
Eine Voraussetzung für die Stärkung der Resilienz ist die stressfreie Atmosphäre (Fastner, 2021). Dass es daran mangelt, ergibt sich aus der Dauernotlage in der Pflege (Heintze, 2018). Leidtragende sind beide Seiten des Pflegeprozesses, nämlich Pflegende wie auch Leistungsempfangende. Gebraucht wird folglich die Übertragung des Resilienz-Konzeptes auf eine ganze Disziplin. Die sieben Säulen der Resilienz (Reivich & Shatté, 2002) könnten dann gleichermaßen zu einem Weckruf für Gesellschaft und den eigenen Fachbereich umformuliert werden und würden sich in etwa so lesen:
- Optimismus: Die Pflege steigt in einen Diskurs ein, der positive Entwicklungen – wie zum Beispiel den absoluten Anstieg der Auszubildenden – wahrnimmt. Die Fokussierung auf offenkundige Mängel kann sonst zu einer Negativ-Spirale führen, die Entwicklungen und Lösungen behindert. Umgekehrt gehört es zum psychologischen Einmaleins, dass eine positive Erwartungshaltung die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Chancen ist.
- Akzeptanz: Anerkennen der Notlage, unter der das Fachgebiet, seine Beschäftigten und die Leistungsempfänger leiden. Nur wer seine eigenen Grenzen kennt und akzeptiert, kann dem Dauerstress entgegentreten und willig Einhalt gebieten. In der gegenwärtigen Situation sollte man das als selbstverständlich voraussetzen. Dass das Gegenteil der Fall ist, belegen unter anderem der sehr niedrige Organisationsgrad in der Pflege und die teilweise geradezu kontraproduktiven Tendenzen bei der Schaffung einer Selbstverwaltung.
- Lösungsorientierung: Konzentration der Anstrengungen auf die Lösung der Herausforderungen im „halb vollen Glas“ Pflege. Eine Bestandsaufnahme ist wichtig und eventuell schmerzhaft. Aber das Klagen hilft nichts, es müssen Lösungen angeboten werden, die aus der Pflege selbst entstehen. Selbst wenn es diese vereinzelt gibt, dann fehlt es bislang an Voraussetzungen für ihre Durchsetzung, die im Zusammenspiel mit den anderen Säulen geschaffen werden.
- Netzwerkorientierung: Stakeholder, die Politik, das gesellschaftliche Netzwerk für die eigene Sache gewinnen. Pflege ist eine Beziehungsdisziplin. Das ist die beste Voraussetzung, Netzwerke zu knüpfen, was wiederum das Vorankommen in anderen Säulen fördert und auf das Resilienz-Konto einzahlt. Die Widerstandsfähigkeit steigt, wenn man Partner für die eigene Sache gewonnen hat.
- Eigenverantwortung: Die eigenen Bedürfnisse erkennen und mit dem Ergebnis in einen kritischen Dialog treten, welcher Stakeholder, Politiker:innen und vermeintlich starke Nachbarprofessionen einschließt. Wer für sich selber sorgt, kann sich auch gegenüber störenden und stressbehafteten Einflüssen behaupten. Damit sind die einzelnen Akteure gemeint, aber auch die gesamte Disziplin, die in puncto Eigenwahrnehmung und Selbstbehauptung noch Hausaufgaben zu erledigen hat.
- Selbstregulierung: Befreiung aus der Unterwerfungsfalle: Pflege übernimmt Verantwortung. Sie muss lernen, die zahlreichen Wünsche in geeigneter Weise an der richtigen Stelle zu platzieren. Ohne politische Agenda wird das nicht gehen, aber die Zeichen für mehr Aufmerksamkeit stehen angesichts des aktuellen medialen Interesses gut.
- Zukunftsplanung: Werte klären, Ziele definieren, die Zukunft aktiv gestalten: Die Pflege muss begreifen, was sie ist, welche Rolle sie in unserer Gesellschaft spielt und sich in Gesundheits- und Sozialpolitik aktiv einmischen. Vermutlich wird das nur mit einer gewissen Akademisierung und dem damit einhergehenden Statusgewinn des Berufsfeldes gelingen.
Quellen:
Block, St. (2011) Hat der Wahnsinn System oder ist das System wahnsinnig? zuhause für Sie da 10/2011, S.2, ASB Pflege Bremen GmbH
Bundestag (2022) BT Drucksache 20/1360, S. 12 ff.
Fastner, M. (2021) Krisenintervention im pflegerischen Setting
Heintze, C. (2018) Pflege in der Dauerkrise. Die Logik des Marktes geht zu Lasten des Pflegepersonals und der Pflegequalität. In: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e.V. (Hg.): Memorandum 2018. Preis der „schwarzen Null“: Verteilungsdefizite und Versorgungslücken. Köln: PapyRossa. Online abrufbar unter: http://www2.alternative-
wirtschaftspolitik.de/uploads/heintze_memo18_langfassung_des_pflegekapitels.pdf; abgerufen am 23.6.2022
KKH (2022), Pflegekräfte im Corona-Jahr 2021 besonders lange krank
Mauritz, S. (2022) Die vier Wellen der Resilienzforschung
Reivich, K., & Shatté, A. (2002) The resilience factor: 7 essential skills for overcoming life’s inevitable obstacles. Broadway Books.
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