Reformstau in der Pflege – das Märchen von der Qualität25 | 05 | 23

Aktenordner, Reformstau, Schublade

Die Pflegeversicherung wird bald dreißig Jahre alt. Vor ihrer Einführung wurden pflegebezogene Kosten vor allem aus der Krankenversicherung und der Sozialhilfe bezahlt. Doch mit der alternden Gesellschaft und dem steigenden Bedarf an nicht medizinischen Leistungen drohte dieser eine Überlastung. Die absolute Zahl der Anspruchsberechtigten für Leistungen aus der Pflegeversicherung ist seit Mitte der 90er Jahre von knapp über einer auf mittlerweile über fünf Millionen Menschen angestiegen, eine Verfünffachung.

Diese fünfte Säule der Sozialversicherungen war ursprünglich darauf ausgelegt, die vom demographischen Wandel verursachten sozioökonomischen Risiken abzufedern, die mit dem gleichzeitig steigenden Pflegebedarf einhergehen. Sie nimmt Familien und das Individuum in die Pflicht und ist im klassischen Sinne eigentlich keine Versicherung, weil die Leistungen innerhalb enger Grenzen gedeckelt sind. Darüber hinaus muss der Pflegebedarf über mindestens sechs Monate bestehen, damit eine Berechtigung für die Kostenübernahme von Pflegeleistungen nach diesem Gesetz besteht.

Die zwei Seiten der Pflege in Deutschland

Mit der Pflegeversicherung wurde in Deutschland willkürlich ein Systembruch vorgenommen. Sie gilt nur für Leistungs-Ansprüche in der Langzeitpflege. Die folgt nun im wahrsten Sinne anderen Gesetzen als die Pflege im Krankenhaus, in Rehakliniken oder im Hospiz. Dort gelten nämlich für die Finanzierung, für Personalberechnung, aber auch für Qualitätssicherung, -prüfung und -management die Regeln der Krankenversicherung – und damit die der Medizin. Fachliche Gründe für die Trennung der Pflege in zwei Bereiche liegen hingegen nicht vor.

Für Heime, pflegerisch betreute Wohnquartiere und die ambulante Pflege wurde mit dem elften Sozialgesetzbuch (SGB XI), der Pflegeversicherung, ein System geschaffen, das aus qualitätshistorischer Perspektive den Anfängen des Qualitätsmanagements (QM) gleicht. Im Fokus steht bis heute die Sicherung der Dienstleistungsergebnisse, die anhand von Indikatoren, Kennzahlen und Statistiken erhoben werden. Ein Übergang in die Phase der Integration des QM als Führungsmodell schafft die Pflegeversicherung bis heute nicht.

Pflegebedürftigkeit in der Langzeitpflege

Für die Feststellung, ob Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vorliegt, gibt es einen Kriterienkatalog, der zu Beginn bewusst eng gefasst war und sich vor allem auf körperlichen Unterstützungsbedarf bezog. Seelische und kognitive Einschränkungen führen aber ebenfalls zu Pflegebedarf. Man denke nur an die aufwändige und fachlich intensive Betreuung von Menschen mit demenziellen Veränderungen. Deren absolute Zahl nimmt laufend zu (Deutsche Alzheimergesellschaft e.V.). Aber der gesetzliche Rahmen für Pflegeleistungen war anfangs so eng gefasst, dass diese Menschen buchstäblich durch das Kriterienraster fielen und Leistungsbedarf und -angebot immer weiter auseinanderdrifteten.

Es bedurfte einer Anpassung der Kriterien, um die zunehmende Zahl an Menschen aufzufangen, die auf Grund kognitiver, seelischer oder sozialer Gründe einen pflegerischen Versorgungsbedarf haben. Diese Anpassung sollte 2017 ein Gesetz leisten, dessen Folgen das deutsche Pflegesystem bis heute vor große Herausforderungen stellt. Die Kriterien für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit nach dem Gesetz wurden erweitert um psychosoziale Bedarfe. In der Folge stieg die Zahl der Berechtigten, die Leistungsansprüche aus der Pflegekasse haben, sprunghaft an.

Das ist gut und richtig und fachlich ehedem logisch. Denn Pflege beschränkt sich nicht auf die Erfüllung körperlicher Bedarfe nach dem Motto „satt und sauber“. Vielmehr ist ihr Auftrag, vorhandene individuelle Ressourcen zu aktivieren, um Menschen so weit wie möglich unabhängig von Pflegebedarf zu machen und damit ihre Lebensqualität zu sichern. Das gilt im Krankenhaus nach einer überstandenen Infektion genauso wie im Alter, wenn Kräfte schwinden, aber viele Kompetenzen zum Auffangen von Defiziten vorhanden sind und aktiviert werden können.

Geld rettet die Pflege nicht

Soweit die Theorie, aber in der Praxis geht es bekanntlich anders zu. Denn wo es zuvor schon zu wenige Pflegekräfte gab, hat dieser notwendige Schritt zu noch mehr Engpässen der ohnehin knappen Personal-Ressource geführt. Mehr Leistungen verursachen natürlich auch mehr Kosten für das Gesundheitssystem. In der Folge griff der Gesetzgeber über die Jahre mehrfach zu dem Mittel der Beitragserhöhung, um den drohenden finanziellen Kollaps der Pflegeversicherung abzuwenden. Tatsächlich gab es aber bisher keinen substanziellen Versuch, strukturelle Defizite anzugehen.

So läuft auch mit dem gerade verabschiedeten Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) erneut lediglich eine Debatte über die Finanzierung der explodierenden Kosten. Die gibt es nicht nur auf der Seite der Pflegeversicherung. Das Armutsrisiko für pflegebedürftige Menschen nimmt momentan stark zu, weil sie zu einem großen Teil die rasant steigenden Personalkosten und die krisenbedingte Erhöhung der Preise für Mieten, Energie und Investitionen selbst tragen müssen.

Die Pflegeversicherung steht in ihrer bestehenden Form vor dem Kollaps. Reich an der Zahl sind die Forderungen nach einer grundlegenden Reform. Vielfältig ist immer wieder die Ernüchterung auf die Regierungs-Vorschläge und Gesetzesvorhaben unterschiedlicher Couleur (CDU, SPD, FDP) in den letzten drei Jahrzehnten.

Wie sähe das Pflegemärchen Deutschland aus?

Wenn übernatürliche Kräfte in unser Gesundheitssystem eingreifen dürften, dann würden sie an zwei Stellen eine besonders gute Wirkung für die Pflege haben: Die Perspektive der Qualität und die Wiederentdeckung des Wesens der Pflege. Letzteres erfordert den Blick durch die Brille der pflegeeigenen Fachlichkeit. Das Wesen der Pflege zielt nämlich – wie oben dargelegt – auf die Aktivierung vorhandener individueller Ressourcen ab. Fachpflegekräfte sind dazu ausgebildet, die gesundheitlichen Ressourcen eines Menschen zu erkennen, zu bewerten und sie so zu aktivieren, dass Pflegebedarf möglichst vermieden wird.

Man muss sie nur dazu befähigen, es zu tun!

Dazu gehört zum einen die Übertragung sogenannter heilkundlicher Aufgaben. Gemeint sind medizinnahe Tätigkeiten. Pflegefachkräfte können viele Sachverhalte fachkundig einschätzen. Es bedarf nicht für jede Intervention der Autorisierung der Ärzte. Hier könnte der Blick ins Ausland helfen, wo es viele Länder gibt, in denen Pflegefachkräfte selbst über den pflegerischen Behandlungsweg entscheiden.

Grundlage wären ureigene pflegerische Diagnosen, Interventionen und Ziele, also originäre Pflege-Therapien, respektive -prozesse. Die folgen international anerkannten und evidenzbasierten Standards. So ist Inkontinenz aus medizinischer Sicht eine Erkrankung, während die Pflege sich auf die vorhandenen Ressourcen konzentriert. Beide Disziplinen haben die fachliche Kompetenz, aus der jeweiligen Perspektive Klient:innen zu unterstützen. Die Medizin, indem sie medikamentös oder operativ eingreift – die Pflege, indem sie evidenzbasierte Trainings zur Kontinenzförderung durchführt und entsprechende Pflegehilfsmittel einsetzt.

Geld, Qualifikation, Autonomie

Die Finanzierung derartiger Pflegeleistungen könnte sich an den genannten internationalen Standards orientieren. Liegt eine Pflegediagnose – wie zum Beispiel die Sturzgefahr – vor, so könnte, abgeleitet von den individuell für eine Vermeidung von Stürzen erforderlichen pflegerischen Maßnahmen, ein entsprechendes Budget bereitgestellt werden. Das könnte unabhängig von einer ärztlichen Diagnose oder Autorisierung gewährt werden. Auch das geschieht so in anderen Ländern.

Was hier noch nicht zur Sprache kam, ist die unzureichende Attraktivität des Berufsfeldes. Sie führt zu Personalmangel und verschärft den Pflegenotstand. Wenn wir aber akzeptieren, dass es immer mehr Menschen in Deutschland gibt, die ihre Schule mit einer Hochschulzugangsberechtigung abschließen, dann sollte das Berufsfeld Pflege in Zukunft auch für diese Gruppe attraktiv sein.

An der Akademisierung führt kein Weg vorbei. Sie ist eng mit der fachlichen Autonomie und der Attraktivität des Berufsfelds verknüpft. Gegen die Befürchtung, dass dies den sogenannten Wasserkopf und damit das System nur noch mehr belasten würde, seien die Niederlande, die Schweiz und skandinavische Länder genannt. Dort sind auch Pflege-Akademiker:innen in der operativen Pflege tätig und haben Karrierechancen. Dass die Verbesserung des Qualifikationsmixes durch den Einsatz akademischer Pflegekräfte zu einer Anhebung der Pflegequalität führen kann, ist allemal naheliegend und belegt.

Schließlich ist die fachlich unsinnige gesetzliche Trennung der Pflege in zwei Segmente zu überwinden. Sie führt nicht nur aus der Qualitätsperspektive zu einer widersprüchlichen Aufteilung in Langzeitpflege, klinisch-medizinisches Arbeitsfeld und den Sonderbereich Hospizpflege. Pflege ist eine eigenständige Disziplin mit eigenen Diagnosen, Therapien und Behandlungszielen. Die sind unabhängig vom Alter der Menschen mit pflegerischem Handlungsbedarf, von der Dauer des voraussichtlichen Bedarfes und der medizinischen Autorisierung.

Ein Ruck für Qualität statt ruckeln im Reformstau

Das Märchen endet mit der Qualität in der Pflege und einem Management, das für ein attraktives Berufsfeld sorgt, echte Führungskompetenz verkörpert und stringent die Fachlichkeit über Versicherungsgrenzen hinweg vorantreibt. Die Merkmale dieser Pflegequalität wären evidenzbasiert. Entsprechend der ISO-Qualitätsdefinition wären die Forderungen erfüllt, wenn sie den zu pflegenden Personen zu mehr Lebensqualität nach wissenschaftlichen und individuellen Maßstäben verhelfen würden. Beide sind messbar und ihre Gesamtheit sollte das QM in der Pflege bei seiner Führungsaufgabe leiten. Den Rahmen könnte die Politik liefern und müsste sich einen Ruck geben, das Märchen wahr zu machen und den dramatischen Reformstau aufzulösen.

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

Ein Kommentar bei “Reformstau in der Pflege – das Märchen von der Qualität”

  1. 8dec50bda25b367168df67d3603818ca Karlheinz Zacherl sagt:

    Die Märchen der Gebrüder Grimm waren auch Geschichten die erzählt und gesammelt wurden. Ich mag Märchen. Denn Märchen gehen immer (meistens) gut aus. Die „Bösen“ landen in der Finsternis. Wer sind die „Bösen“ in der Pflege. Das Böse in der Pflege ist das System. Dieses System wurde seit Jahrzehnten unterwandert von verschiedenen Interessengemeinschaften. (Hier haben wir wieder eine Gruppe der „Bösen“!) Es wird Zeit für eine organisierte Refom und nicht nur „Reförmchen“.
    Die Methoden und Strukturen der Qualität / des Qualitätsmanagement könnte hier das Märchen wahr werden lassen. Dazu braucht es aber uneigennützige Magier und Feen. Glauben wir weiter an Märchen.

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