Ich möchte Marie Kondo als Qualitätsmanagerin einstellen: Deformalisierung durch Struktur und Systematik13 | 04 | 21

Letztes Jahr fiel mir in der Bibliothek ein Buch der Aufräumexpertin Marie Kondo in die Hände. Mehr aus purer Neugier als aus wirklichem Interesse nahm ich das Buch mit. Ein echtes Konzept zum Ausmisten kann nicht schaden, dachte ich mir – zunächst ohne große Erwartungen.

Marie Kondo beschränkt sich in ihrem Konzept auf 6 Grundsätze, die der Visualisierung von Weg, Ziel und Disziplin dienen, um systematisch Ordnung zu schaffen und sich von Dingen zu lösen, die man nicht braucht. In ihrem Buch unterlegt sie die Grundsätze mit Fallbeispielen und Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Die Grundsätze lassen sich zusammenfassen als:

  • Selbstverpflichtung zum Aufräumen
  • Visualisierung des idealen Lebensstiles
  • Beenden des Entrümpelns bevor neue Dinge kommen
  • Aufräumen nach Kategorie, nicht nach Ort
  • Befolgen der festgelegten Reihenfolge
  • Jede Entscheidung, ein Teil zu behalten, sollte auf der Frage basieren „Bringt es mir Freude, dieses Teil zu besitzen?“

Das Gesamtkonzept wirkt schlüssig. Der letzte Punkt hat die Methodik sicherlich weltweit bekannt gemacht. Ich fragte mich: Kann ich Marie Kondos Prinzip auf meine Arbeit übertragen? Wie könnte eine solche Philosophie für das Qualitätsmanagement aussehen, nach welchen Leitsätzen kann ich hier reduzieren?

Dysfunktionale Systeme durch Überformalisierung oder Chaos im regulierten Umfeld für Medizinprodukte

Als Consultant werde ich häufig von Kunden um Reviews von qualitätsbezogenen Dokumenten gebeten. Dabei überrascht mich regelmäßig, wie sehr sich Qualitätsmanagementsysteme in verschiedenen Unternehmen unterscheiden. Pragmatismus, Hintergrundwissen und Erfahrung der Autoren spiegeln sich deutlich in Verfahrensanweisungen (SOPs) wieder. Die schlankste Prozesslandschaft mit den schlichtesten SOPs habe ich bisher nicht in einem Start-up gefunden, sondern in meiner Firma, obwohl diese Dienstleistungen im maximal regulierten Umfeld durchführt (Pharma und klinische Studien).

Benedikt Sommerhoff gab bereits einen Impuls zu den dysfunktionalen Systemen, die sich nur durch eine Deformalisierung der Prozesse vermeiden lässt. Auch im regulierten Umfeld der Medizinprodukte gilt: weniger ist oft mehr. Aus Unwissenheit und mangelnder Erfahrung werden sich schnell interne Vorgaben auferlegt, die einen enormen Aufwand mit sich bringen und damit gegebenenfalls nicht erfüllt werden können. Seien wir realistisch, ein CAPA-Prozess wird nicht dadurch lebendig, dass ein Fragenkatalog über 10 Seiten bearbeitet werden muss. Non-Compliance ist vorprogrammiert. Das kann im Audit zum Problem werden.

Marie Kondo wäre eine ausgezeichnete Qualitätsmanagerin

Die Fähigkeit Ordnung und Systeme zu schaffen, ist nicht nur zu Hause nützlich, sondern lässt sich auch auf den beruflichen Kontext übertragen. Strukturieren, Planen und Kategorisieren dienen der Klarheit und sind fundamentale Aufgaben bei der Etablierung oder Weiterentwicklung eines Qualitätsmanagementsystems. Die Prinzipien Marie Kondos zum Aufräumen und Ausmisten lassen sich somit gut auf die Etablierung und Wartung eines QM-Systems übertragen (Tabelle 1).

 

Tabelle 1: Übertragung der Prinzipien von Marie Kondo zum Aufräumen und Entrümpeln auf ein Qualitätsmanagementsystem

Schritt 1: Verpflichten Sie sich zur Systematik

Nehmen Sie die Prinzipien Systematik, Pragmatismus und Struktur als Grundregel an und orientieren Sie sich jederzeit an diesen.

Schritt 2: Entwerfen Sie eine ideale Prozesslandschaft

Eine Prozesslandschaft sollte so konstruiert werden, dass Schnittstellen klar definiert sind. Alle Prozesse müssen sich in einem Flow Chart darstellen lassen, damit Kernprozesse und Wechselwirkungen erkennbar sind.

Schritt 3: Nutzen Sie Visualisierungen und tabellarische Übersichten

Zur Beschreibung der Prozesslandschaft, aber auch innerhalb der Dokumente, empfiehlt sich für komplexe Zusammenhänge die Visualisierung durch Flow Charts. Mindestens sollte mit tabellarischen Übersichten gearbeitet werden. Eine ausschließlich in Fließtext ausgearbeitete Textform macht es dem Leser schwer und sorgt dafür, dass die Dokumente bei Schwierigkeiten im Alltag nicht erneut herangezogen werden. Nebenbei ist die Verifizierung der Wirksamkeit einfacher, wenn die dahinterliegende Struktur rasch erkennbar ist. Schreiben Sie den Prosatext deshalb erst nachdem Ihnen die grobe Struktur des Prozessablaufs klar ist.

Schritt 4: Strukturieren Sie Prozesse nach Themen

SOPs müssen nicht für Abteilungen geschrieben werden, sondern sollten sich nach Thema ergeben. Die Strukturierung sollte sich immer auf die Themen und Inhalte beziehen, nicht nach Abteilungen oder Arbeitsgruppen. Damit fördern Sie die internen Kooperationen der Abteilungen, denn Kooperation und Kommunikation sind wichtige Konsequenzen der MDR und Grundbaustein eines modernen Arbeitsalltags.

Schritt 5: Nutzen von Dokumentenhierarchien

Nutzen Sie SOPs und Arbeitsanweisungen (Work Instructions – WINs) zur Unterscheidung in der Dokumentenhierarchie. SOPs sollten den groben regulatorischen Rahmen vorgeben, während daraus abgeleitete WINs Details nennen. Je nach Dokumentationskontrollverfahren kann die Änderung einer WIN unter Umständen einfacher sein kann als die Änderung einer SOP. Checklisten und Templates, die alle Vorgaben enthalten und nur noch ausgefüllt werden müssen, sind optimal.

Schritt 6: Fragen Sie sich, was regulatorisch gefordert ist.

Der letzte Punkt ist dabei vermutlich der wichtigste. Es bringt keinen Mehrgewinn, wenn in SOPs organisatorische Abläufe detailliert festgelegt sind, die regulatorisch nicht gefordert sind. Manche Vorgaben sind in Policies oder Leitfäden besser aufgehoben. Bedenken Sie immer: was Sie in Ihren Prozessvorgaben beschreiben, müssen Sie auch auf Wirksamkeit prüfen können.

Das KISS-Prinzip: keep it simple and stupid.

Die Arbeit im Qualitätsmanagement benötigt selbstverständlich fach- und branchenspezifische Kenntnisse. Essenziell sind allerdings grundlegende Erfahrungen, wie z. B. solche aus der Zusammenarbeit mit Auditoren, denn nur so lassen sich Risiken und Konsequenzen abschätzen, um mit dem geringstmöglichen Aufwand durch Audits zu kommen. Grundsätzlich sollte das Bestreben sein, komplexe Strukturen und Zusammenhänge klar und so simpel wie möglich abzubilden. Nichts anderes bedeutet das KISS-Prinzip und ich glaube, es sollte zum Dogma in unserem Beruf werden.

Marie Kondo hatte Recht

Tatsächlich hat es mir geholfen, mich beim Aussortieren zu fragen, ob mir ein Gegenstand wirklich Freude bereitet, um das Ausmisten konsequent durchzuziehen. Ich habe einigen Plunder aussortieren können und bin mir seitdem sicher, dass Marie Kondos Methodik zurecht beliebt ist und auch in anderen Bereichen für sinnvolle Denkanstöße sorgen kann.

 

Referenzen:

Marie Kondo. Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert. Erschienen im Rowohlt Verlag

Benedikt Sommerhoff: QM und QS im Wandel: Deformalisierung

MDR – Europäische Medizinprodukteverordnung 2017/745

Über die Autorin: Claudia Dannehl

Dr. Claudia Dannehl ist Mitglied bei der DGQ und spezialisiert auf Medizinprodukte. Dr. Claudia Dannehl studierte Physik an der Universität Leipzig und schloss ihre Promotion in Biophysik an der Universität Potsdam ab. Im Rahmen ihrer Tätigkeit bei LINK Medical unterstützt sie insbesondere Startups beim Aufbau von QM-Systemen und dem Konformitätsbewertungsverfahren innovativer Produkte.

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