Hätten nach ISO 9001 zertifizierte Unternehmen besser auf Corona vorbereitet sein müssen?19 | 05 | 20

Fernglas - War eine Pandemie vorhersehbar?

Die aktuelle Corona-Situation hat Auswirkungen auf nahezu alle Unternehmen. Auf einige mehr, auf andere weniger – aber für die absolute Mehrzahl sind die Auswirkungen negativ. Wenn man sich die Besonderheit der Situation vor Augen ruft und schaut, auf welche Art und Weise die Wirtschaft damit umgeht (z. B. extrem schnelle Schaffung von Homeoffice-Möglichkeiten), dann beweist dies, dass trotz des hohen Drucks besondere Lösungen schnell gefunden bzw. geschaffen werden.

Wenn wir jetzt aber gedanklich mal einen Schritt zurückgehen, stellt sich die Frage: Hätten nach ISO 9001 zertifizierte Unternehmen besser auf Corona vorbereitet sein müssen?

Risiken und Chancen in der ISO 9001

ISO 9001:2015 ist im Jahr 2015 in Kraft gesetzt worden. Seit September 2018 müssen alle nach ISO 9001 zertifizierten Unternehmen ein Qualitätsmanagementsystem nach dieser Normfassung führen. Im Kapitel 6.1 „Maßnahmen zum Umgang mit Risiken und Chancen“ greift die ISO 9001 zum ersten Mal die Themen Risiken und Chancen als Normforderungen auf. Die Norm fordert, dass sowohl Risiken und Chancen, als auch der Umgang mit diesen bestimmt werden müssen. Die dazugehörigen Maßnahmen und deren Wirksamkeit müssen bewertet werden. Im Unterkapitel gibt die ISO 9001 auch die Proportionalität dieser Maßnahmen vor, die gegeben sein muss.

Doch wie kann diese Proportionalität nicht einfach nur nach Bauchgefühl bewertet, sondern mit Zahlen, Daten und Fakten unterlegt werden?

Risikoprioritätszahl versus Corona

An dieser Stelle kommt die Risikoprioritätszahl ins Spiel.

Zahlreiche Unternehmen bestimmen das Risiko anhand einer Risikoprioritätszahl, die sich wie folgt berechnet:

 

Auftretenswahrscheinlichkeit x Fehlerschwere x Entdeckungswahrscheinlichkeit = Risikoprioritätszahl.

 

Dabei werden die Faktoren mit einer Kennzahl von 1-10 bewertet. Das Ergebnis, die Risikoprioritätszahl, liegt somit zwischen 1 und 1.000.

Eine Risikoprioritätszahl von 1 bedeutet, dass alle drei Faktoren (Auftreten, Schwere und Entdeckung) mit 1 bewertet wurden. Das heißt: die Auftretenswahrscheinlichkeit und die Fehlerschwere sind extrem niedrig und die Entdeckungswahrscheinlichkeit ist extrem hoch.
Eine Risikoprioritätszahl am anderen Ende der Skala bei einer Höhe von 1.000 würde bedeuten, wir haben eine extrem hohe Auftretenswahrscheinlichkeit, eine extrem hohe Fehlerschwere und die Entdeckungswahrscheinlichkeit wäre extrem niedrig.

Doch versetzen wir uns gedanklich mal in den Sommer 2019: ein Qualitäter in einem Unternehmen nutzt die Ruhe der Sommerferien dazu, sich Gedanken darüber zu machen, ob eine weltweite Pandemie (die sowohl eine Unterbrechung der Lieferkette, als auch einen Zusammenbruch des Absatzmarktes nach sich ziehen würde) als Risiko betrachtet bzw. behandelt werden muss. Wenn wir ohne das heutige Wissen eine Risikoprioritätszahl erstellen würden, dann würden wir bei der Auftretenswahrscheinlichkeit maximal eine 2 vergeben. Tendenziell sogar eher eine 1, weil im Jahr 2019 die heutige Situation noch komplett unvorstellbar war. Bei der Fehlerschwere würde vielleicht eine 8 vergeben werden. Denn wenn dieser Zustand eintritt, so wie es jetzt passiert ist, hat dies massive Auswirkungen.
Im Bereich der Entdeckungswahrscheinlichkeit können wir jetzt einfach mal eine maximal mögliche 10 vergeben. Nach der üblichen Vorgehensweise müsste hier eine 1 stehen, da eine Pandemie sicher nicht unentdeckt bleibt und ihre Entdeckungswahrscheinlichkeit somit sehr hoch ist. Allerdings wird eine Pandemie zu spät entdeckt, als dass sich Unternehmen im Sinne der Unternehmenssicherung noch auf das zu erwartende Ereignis in angemessener Form vorbereiten könnten – daher 10.

Dann haben wir folgendes Ergebnis bzw. folgenden Rechenweg:

 

2 (Auftretenswahrscheinlichkeit) x 8 (Fehlerschwere) x 10 (Entdeckungswahrscheinlichkeit) = 160 (Risikoprioritätszahl).

 

Schon an dieser Zahl und der Skala 1-1.000 sehen wir, dass sich 160 am unteren Ende der Skala bewegt. Und jeder, der des Öfteren eine Risikoprioritätszahl einsetzt und Erfahrungen damit hat, wird mir bei folgender Aussage Recht geben: Risiken mit einer Risikoprioritätszahl von 160 sind in der Regel keine Risiken, an die man rangeht, da es zahlreiche Szenarien gibt, deren Risikoprioritätszahl deutlich höher ist.

Für mich ist das Fazit daraus, dass es bei den Unternehmen nicht um eine schlechte Vorbereitung auf diese Corona-Situation ging. Die Auftretenswahrscheinlichkeit war einfach so gering, dass selbst wenn man sich mit dem Thema gedanklich beschäftigt hätte, man nicht zwangsweise wirklich hätte handeln müssen. An diesem Punkt sind wir auch wieder beim Thema der Proportionalität, die in ISO 9001 gefordert wird.

Es gibt meiner Meinung nach auch nicht wirklich viele Möglichkeiten, wie man sich auf solch eine Situation hätte einstellen können. Eine dieser wenigen Möglichkeiten wäre, dass sich Unternehmen ein liquides Finanzpolster in Höhe eines 3-4fachen Monatsumsatzes zurücklegen. Damit wäre theoretisch in der Zeit des Shutdowns die Begleichung aller finanziellen Verbindlichkeiten möglich gewesen. Man kann jetzt trefflich z. B. über Fluggesellschaften streiten, die fast wahnweise jeden liquiden Euro in Dividenden oder Aktienrückkaufprogramme gesteckt haben, jetzt aber durch staatliche Finanzspritzen gerettet werden möchten. Aber ich kenne so gut wie kein Unternehmen, das den 3-4fachen Monatsumsatzes als liquide Mittel hat bzw. überhaupt die Möglichkeit hätte, sich solch ein Finanzpolster aufzubauen.

Wie sollten Unternehmen weiter damit umgehen?

Zum aktuellen Zeitpunkt dieser Beitragserstellung werden die Corona-Maßnahmen (Kontaktbeschränkungen, Öffnungen im Einzelhandel usw.) allmählich gelockert. Bis diese komplett aufgehoben sind, vergeht sicherlich noch einige Zeit.

Es stellt sich aber die Frage: wie gehen Unternehmen in Zukunft damit um?

Und an diesem Punkt bringe ich erneut die Risikoprioritätszahl ins Spiel. Denn hier verändert sich die Bewertung und Rechenweise auf einmal ganz deutlich, wenn man die aktuelle Situation kennt.

Der Einfachheit halber bleibe ich bei einer Fehlerschwere von 8 und bei einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 10. Die Auftretenswahrscheinlichkeit bewerte ich jetzt allerdings mit 5 (nicht wie im Jahr 2019 mit 1 bzw. 2). Denn selbst wenn der Worst Case, dass es weltweit zu einem fast zeitgleichen Shutdown kommt, nicht mehr eintritt, so halte ich es persönlich für nicht ausgeschlossen, dass partiell und regional begrenzt solche Maßnahmen wieder nötig sind bzw. sein werden – zumindest solange, bis es einen Impfstoff gibt.

So oder so hat uns die aktuelle Situation aber gezeigt, dass wir mit der Bewertung einer Auftretenswahrscheinlichkeit von 1-2 komplett daneben gelegen haben. Denn es kann jederzeit auch einen anderen Virus geben, der eben diese Verbreitungswege nimmt und entsprechende Auswirkungen hat.

Aber machen wir die Rechnung der Risikoprioritätszahl einfach nochmal mit der Änderung in der Auftretenswahrscheinlichkeit:

 

5 (Auftretenswahrscheinlichkeit) x 8 (Fehlerschwere) x 10 (Entdeckungswahrscheinlichkeit) = 400 (Risikoprioritätszahl).

 

Somit kommen wir auf eine Risikoprioritätszahl von 400. Damit ist der Wert mehr als doppelt so hoch wie in unserer ersten Rechnung. Dies bedeutet bzw. impliziert in Zukunft Handlungsbedarf bei den Unternehmen. Dieser Handlungsbedarf mag von Unternehmen zu Unternehmen stark unterschiedlich sein – ist meiner Meinung nach aber dennoch zu berücksichtigen.

Wir können gespannt sein, wie sich dieses Thema in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren auch in den externen Audits entwickeln wird und wie externe Auditoren diesbezüglich ein Auge darauf werfen werden.

Fazit

„Das Leben ist das, was passiert, während man Pläne macht.“

In der aktuellen Situation denke ich, trifft dieses Zitat ganz gut zu. Denn wie schon beschrieben, konnten sich die wenigsten im letzten Jahr vorstellen, dass wir eine Situation wie diese bekommen. Aber die Pläne, die wir machen, sind nicht in Stein gemeißelt und man kann und sollte diese verändern, wenn es neue Informationen – wie in diesem Fall – gibt.

Damit nicht folgendes Zitat zutrifft: „Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.“

Über den Autor: Michael Thode

Michael Thode betreut mit der Lösungsfabrik kleine und mittelständische Unternehmen im Bereich Qualitätsmanagement und ISO 9001. Außerdem betreibt er einen Blog, um darauf ständig interessantes und wissenswertes aus der QM-Welt zu veröffentlichen.

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