DIN EN ISO 26000:2021 für Eilige und Nicht-Heilige5 | 05 | 21
Der revidierte „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung“ wurde im April 2021 veröffentlicht. Kurzum: die Revision der Erstausgabe von 2011 bezog sich auf Redaktionelles und Fußnotenaktualisierungen. Inhalte und Struktur der ISO-Norm sind unverändert. Nach wie vor soll damit nicht zertifiziert werden. Nun könnte man schon am Ende der Information angelangt sein, wäre da nicht die Neugier, warum sich hunderte engagierte Fachexperten aller Branchen aus über 90 Ländern dennoch so viel Mühe mit einer Revision dieser 154 Seiten Kleingedrucktes gemacht haben. Also doch mal reinblättern? Ich konnte nicht widerstehen.
Was die Norm bzw. die Fachexperten bezwecken
ISO 26000 will gesellschaftliche Verantwortung als einen zukunftsentscheidenden Kontext für Organisationen sichtbar machen. Die Norm bietet daher Orientierung zum Entscheidungs- und Umsetzungsweg sowie zu Handlungsfeldern gesellschaftlicher Verantwortung.
Was die Handlungsfelder ausmacht
ISO 26000 erläutert insgesamt 36 Handlungsfelder zu den Kernthemen Menschenrechte, Arbeitspraktiken, Umwelt, faire Betriebs- und Geschäftspraktiken, Konsumentenanliegen sowie Einbindung und Entwicklung der Gemeinschaft.
„6.7.5 Konsumentenanliegen – Handlungsfeld 3: Nachhaltiger Konsum“ beschreibt beispielsweise Ziele wie mehr Lebensqualität, Tierwohl und weniger Ressourcenverbrauch. Von Organisationen beeinflussbar sind die angebotenen Produkte und Dienstleistungen, deren Lebenszyklus sowie die Art der Verbraucherinformation. Unter Maßnahmen und Erwartungen wird das gelistet, was die Norm wirklich lesens- und kaufenswert macht, nämlich jede Menge Handlungsansätze für Organisationen. In diesem Fall sind das sozial- und umweltverträglichere Produkte, Zubehör- und Betriebsstoffe, Verpackungen, Wege, Lebensdauer sowie Konsumentenaufklärung über positive wie negative Auswirkungen, Wertschöpfungskette, Ressourceneffizienz, Entsorgung, Kennzeichnungs- und Verifizierungssysteme.
Diese kompakten Beschreibungen und Ansätze zum Handeln gefallen mir persönlich besser als die Angaben in manch anderem Standard. Beim Lesen entwickeln sich automatisch Bilder vor dem geistigen Auge und es fallen einem erschreckend viele Praxisbeispiele ein, die den noch recht großen Handlungsspielraum in deutschen Organisationen aufzeigen. Was der Leitfaden nicht enthält sind konkrete Kennzahlen. Da ist z. B. der Standard der Global Reporting Initiative (GRI) zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sehr viel konkreter. In der thematischen Erläuterung ist jedoch ISO 26000 stärker und führt in jedes Kernthema mit Grundsätzen und Überlegungen ein.
Wie gesellschaftliche Verantwortung organisationsweit integriert wird
Müssen Sie nun erst mal alle Handlungsfelder für Ihre Organisation im Detail durcharbeiten? Nein, das sollte man weder hier noch bei der Anwendung anderer Nachhaltigkeitsstandards tun. Aber die Auflistung im Leitfaden ist hilfreich, um Handlungsfelder in der eigenen Praxis überhaupt zu erkennen.
Als ersten Schritt startet die Organisation mit einer Selbstbeurteilung, in der sie ihre Schlüsselmerkmale festhält. Dazu gehören Zweck und Größe der Organisation, Standorte mit deren rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Typik der Belegschaft und Beschäftigten (inkl. Subs), Aktivitäten und Kodices des Branchenverbandes als auch eigene Mission, Werte, Strukturen und Wege der Entscheidungsfindung. Eine Rolle spielen auch die nationale oder globale Wertschöpfungskette der Organisation sowie Anliegen der Anspruchsgruppen.
Dann bestimmt die Organisation ihre Vorgaben, Methoden und Verfahren, um Einfluss auf Ihre möglichen Handlungsfelder und ggf. die von Dritten zu nehmen. Die Organisation sollte zu allen Kernthemen prüfen, welche Handlungsfelder relevant sind. Kriterien für die Relevanz, Wesentlichkeit, Priorisierung und Einflussnahme finden sich in Kap. 7.3. Neben dieser Analyse und Anerkennung der Handlungsfelder forciert der Leitfaden als zweiten wichtigen Ansatz den Einbezug der Anspruchsgruppen.
Das erinnert ISO-Anwender nun sehr an die Analyse von Kontext, Erwartungen und Erfordernissen interessierter Parteien und die Bestimmung daraus resultierender bindender Verpflichtungen. Wäre ISO 26000 eine klassische Managementsystemnorm auf Basis der High Level Structure, würde jetzt unvermeidlich der Plan-Do-Check-Act-Regelkreis zur Integration dieser Anforderungen folgen. Das ist ISO 26000 aber nun mal nicht. Stattdessen nimmt dieser Leitfaden nur die besonderen Hürden im PDCA zu einer transparenten, ehrlichen und langfristigen Integration gesellschaftlicher Verantwortung in den Fokus. Dabei handelt es sich um Bewusstseinsbildung, Kompetenzaufbau, strategische Ausrichtung, Entscheidungsfindung, Kommunikation, Glaubwürdigkeit, KVP und Freiwilligkeit.
Es ist aber auch ohne explizite Leitfadenempfehlung absolut hilfreich, sozial- und umweltverträgliche Anforderungen über die einschlägige Managementsystematik zu realisieren.
Die größte Herausforderung
Letztendlich sind wir beim Casus knacksus angekommen, den ISO 26000 bereits im ersten Kernthema aufgreift, wenn auch leider etwas umständlich. „Organisationsführung ist der entscheidende Erfolgsfaktor“, um Verantwortung zu übernehmen. Gemeint sind die Entscheidungsträger der Organisation. Sie sollen die Grundsätze gesellschaftlicher Verantwortung in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Das heißt, Rechenschaftspflicht, Transparenz und ethisches Verhalten befürworten sowie die Interessen von Anspruchsgruppen, die Rechtsstaatlichkeit, internationale Verhaltensstandards und Menschenrechte achten. Die „Organisationsleitung“ – also Entscheidungsträger bzw. Führungskräfte – soll dazu ein Führungs- und Steuerungssystems schaffen, um diese Grundsätze im Handeln zu ermöglichen und zu fördern. Angesichts der Unternehmensrealitäten ist das sicherlich die größte Herausforderung.
Fazit
ISO 26000 kann quasi als Fachbuch insoweit einen wichtigen Beitrag leisten, dass der Leitfaden CSR-Potenziale vermittelt. Die Inhalte sind ausführlich und verständlich beschrieben. Das Wissen darin macht nachdenklich und kann Einstellung und Verhalten verändern. Um in Organisationen mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, braucht man weder vorher eine Heiligsprechung, noch abzuwarten, dass sich Anspruchsgruppen abwenden oder gegen die Organisation richten.
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