Künstliche Intelligenz in der Sicherheitskultur: Wie KI zur aktiven Prävention in der ISO 45001 beiträgt5 | 05 | 25
Unsicheres Verhalten, unsichere Zustände und Beinaheunfälle sind in Unternehmen keine Ausnahme, sondern alltägliche Realität. Meist bleiben sie unsichtbar – bis ein Unfall tatsächlich eintritt. Künstliche Intelligenz (KI) bietet hier eine neue Möglichkeit: Risiken können sichtbar gemacht werden, bevor sie eskalieren. Unternehmen erhalten damit nicht nur ein Werkzeug zur zeitgemäßen Umsetzung der ISO 45001, sondern auch zur nachhaltigen Stärkung ihrer Sicherheitskultur.
Verhalten, Zustände und Beinaheunfälle im Fokus
Die ISO 45001 fordert im Kapitel 6, dass das SGA-Managementsystem proaktiv in der Lage ist, beabsichtigte Ergebnisse zu erreichen, unerwünschte Auswirkungen zu verhindern oder zu verringern und fortlaufende Verbesserung zu gewährleisten. Dafür ist ein strukturierter Umgang mit Risiken und Chancen erforderlich. Doch insbesondere flüchtige Ereignisse wie unsichere Handlungen oder Zustände lassen sich mit konventionellen Mitteln nur schwer erfassen. KI-basierte Systeme schaffen hier Abhilfe: Sie analysieren kontinuierlich situative Risiken und zugehörige Datenquellen – in Echtzeit, objektiv und standardisiert.
Wie KI die Prävention neu definiert
Auf Basis von Machine Learning und Musterdetektion können moderne KI-Systeme Bewegungsmuster, Verhaltensweisen und Umgebungsbedingungen auswerten. Lösungen wie die des Wolfsburger Unternehmens Sentics identifizieren beispielsweise automatisch die Nichteinhaltung von Sicherheitsabständen oder das Fehlen von Schutzausrüstung. Dabei werden nicht nur einzelne Auffälligkeiten gemeldet, sondern konkrete Risikoschwerpunkte visualisiert. Prävention wird dadurch zur strategischen und datenbasierten Disziplin.
Fallstudie: Sentics als Anwendungsbeispiel
Das Wolfsburger Unternehmen Sentics (www.sentics.de) hat sich auf KI-gestützte Sicherheitsanwendungen spezialisiert. Die Technologie basiert auf einem digitalen Zwilling der Arbeitsumgebung, in dem Daten aus Mensch-Maschine-Interaktionen intelligent verknüpft werden. Risiken werden im System als Heatmaps dargestellt, Maßnahmen können automatisch eingeleitet werden. Beispielsweise lassen sich Geschwindigkeiten von Flurfahrzeugen drosseln oder Warnsignale auslösen, sobald eine kritische Situation erkannt wird. Damit wird ein höheres Schutzniveau in Echtzeit ermöglicht.
Beitrag zur Sicherheitskultur
Eine resiliente Sicherheitskultur erfordert weit mehr als formale Vorgaben. Die ISO 45001 betont explizit die Verantwortung der obersten Leitung, eine Kultur zu etablieren, die gesundes und sicheres Arbeiten fördert. Dies umfasst unter anderem die klare Festlegung von Rollen, Verantwortlichkeiten und Befugnissen.
In Kombination mit Ansätzen der „Human and Organizational Performance“ (HOP) wird deutlich: Viele Fehler sind nicht nur auf individuelles Fehlverhalten zurückführbar, sondern auf systemische Schwächen. KI kann helfen, diese frühzeitig zu identifizieren und zu adressieren. Auch das Modell der Unfallpyramide (zum Beispiel nach Heinrich) zeigt: Die Mehrheit schwerer Unfälle hat eine Vielzahl von Vorläuferereignissen. Diese frühzeitig zu erkennen und auszuwerten, ist ein zentraler Nutzen moderner KI-Ansätze.
Integration in Managementsysteme
Die ISO 45001 fordert proaktive Ermittlung und Steuerung von Risiken und Gefährdungen. KI-Systeme wie die von Sentics unterstützen Unternehmen hierbei durch standardisierte Schnittstellen und praxisorientierte Auswertungen:
– Automatisierte Erkennung unsicherer Handlungen und Beinaheunfälle
– Visuelle Risikokarten (Heatmaps) für Gefährdungsbeurteilungen
– Echtzeit-Warnmeldungen bei kritischen Abweichungen
– Trends zur Ableitung strategischer Arbeitsschutzziele
Voraussetzung ist eine fachgerechte Analyse des Arbeitssystems und der Gefährdungssituation sowie die Einbindung in bestehende Prozesse & Systeme. Dann jedoch fügt sich die Technologie passgenau in eine bestehende Organisation ein und bringt Nutzen für das Managementsystem.
Auch andere Managementsysteme profitieren von solch einem KI-Ansatz. So können auch Umweltaspekte aus dem Umweltmanagement nach ISO 14001 – Betreiben einer genehmigungsbedürftigen Anlage – parametriert werden. Abnormale Betriebszustände können auch mittels Sensorik erkannt werden.
Vom Reagieren zum Antizipieren
Die klassischen Reaktionsmuster im Arbeitsschutz stoßen in komplexen, dynamischen Umgebungen zunehmend an Grenzen. KI bietet die Chance, Gefährdungen bereits im Entstehen zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Unternehmen erhalten so ein valides Risikoprofil und können gezielt agieren. Das entlastet Führungskräfte und stärkt zugleich die systematische Sicherheitsarbeit.
Ausblick
KI nimmt den Menschen nicht die Verantwortung ab. Aber sie erweitert seine Handlungsspielräume, erhöht die Transparenz und schafft neue Ansätze zur Risikosteuerung. Für Organisationen, die nach ISO 45001 arbeiten, ist sie damit nicht nur ein technologischer Baustein, sondern ein strategischer Hebel zur Weiterentwicklung ihrer Sicherheitskultur. Auch beim Betreiben genehmigungsbedürftiger oder umweltrelevanter Anlagen in ISO 14001 zertifizierten Organisationen kann KI-Unterstützung hilfreich sein.
Im Rahmen eines kommenden DGQ-Regionalkreistreffens in Braunschweig wird Sentics seine Technologie vor Ort vorstellen – eine praxisnahe Gelegenheit, sich über die Potenziale intelligenter Arbeitsschutzlösungen zu informieren.
Über den Autor: Marc Selchow
