Markanter Wetterwechsel: Zeiten großer Veränderungen in der Medizinprodukteindustrie5 | 04 | 19

Eine Bekannte von mir veröffentlichte im letzten Jahr ihre Dissertation im Fachbereich Design. Ziel ihrer Promotion war die Entwicklung einer Methode des sich Öffnens, um neuartiges Design schaffen zu können. Wie schafft man es Dinge neu zu denken, zu entwerfen und zu entwickeln ohne dabei auf ausschließlich Etabliertes zurückzugreifen und sich von diesem beeinflussen zu lassen? Ich fand das Thema, als auch die Methodik zunächst etwas befremdlich, musste aber feststellen, dass mich die Grundidee seitdem nachhaltig beschäftigt und zu einer Art Überlebensstrategie in meinem beruflichen Alltag im Medizinproduktebereich geworden ist. Auch dort sehen wir uns derzeit mit gravierenden Änderungen konfrontiert, die es erfordern, sich teilweise von etablierten Prozessen zu trennen und sämtliche Dinge unvoreingenommen zu betrachten.

Der regulatorische Rahmen ändert sich

Der Markt an Medizinprodukten ist vielfältig. Einwegspritzen, Herzschrittmacher, Fieberthermometer, Hüftprothesen, Beatmungsschläuche. Aktiv oder nicht-aktiv, implantierbar oder ohne Patientenkontakt. Mit Anwendungsteil, mit Messfunktion, mit Zubehör… Medizinprodukte haben als Gruppe im Grunde nur eine gemeinsame Eigenschaft: der regulatorische Rahmen, der sich in Regelwerken wie der europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR) oder der EN ISO 13485 abbildet. Wir befinden uns mitten in einem Umbruch, der wissenschaftliche Ansätze zur Erbringung von Nachweisen über Sicherheit und Leistungsfähigkeit in viel stärkerem Maße fordert als bisher. Zweckbestimmungen, Technologien und Indikationen sind dabei jedoch so vielfältig, dass es unfassbar schwierig ist, generelle Anforderungen zu definieren und diese in ein Regelwerk zu überführen, ohne dass sich Vertreter einzelner Gruppen zu stark reglementiert fühlen.

Medizinische Software mischt als Digital Drugs die Szene auf

Nun etabliert sich eine weitere Gruppe von Medizinprodukten auf dem Gesundheitsmarkt, die jedoch das Potential hat, diesen und die zugehörigen Regularien grundlegend zu verändern: Software als Medizinprodukt. Die Gesundheitsbranche spricht derzeit intensiv über Healthcare 4.0 und die damit verbundenen digitalen Lösungen, z.B. durch Digital Drugs. Dabei handelt es sich um neuartige und maßgeschneiderte Therapien, z.B. Apps, die gesundheitsfördernde Verhaltensänderungen unterstützen. Eine medikamentöse Therapie, wie bei der Behandlung von Diabetes Mellitus Typ 2, könnte durch digitale Therapien vielleicht unnötig werden, da Risikofaktoren wie Bewegungsmangel gezielt überwacht werden können. Angststörungen können nachhaltig im gewohnten Umfeld des Patienten therapiert werden und nicht in einer Praxis, die der Patient wieder verlässt. Software wird in stärkerem Maße Daten sammeln und mittels Algorithmen (z.B. Künstlicher Intelligenz – KI) auswerten, um Diagnosen und Vorhersagen zu treffen, wie es bisher nur der erfahrene Arzt konnte. Im Falle der Diagnose von Krebserkrankungen oder der Vorhersage der Morbidität nach einer individuellen Erkrankung stellt dies eine fundamentale Veränderung für Patienten und alle Akteure im Gesundheitssystem dar. Es handelt sich hierbei keinesfalls um Utopien, sondern um Lösungen, die bereits als CE-gekennzeichnete Medizinprodukte auf dem Markt verfügbar sind. Ähnlich, wie die Lasertechnologie die naturwissenschaftliche Forschung fundamental verändert hat, werden digitale Lösungen die Medizin tiefgreifend verändern.

Die Sicherheit für den Patienten gewährleisten

Die Sicherheit und der Nutzen für den Patienten müssen im Mittelpunkt stehen, egal um welche Art von Medizinprodukt es sich handelt. KI ist aus regulatorischer Sicht betrachtet ein überaus spannendes Thema, da es bisher zwar Regelwerke für medizinische Software gibt (wie die IEC 62304), aber keine behördlichen Richtlinien, Normen, Leitfäden oder Best Practices, die spezifische Anforderungen an KI, medical Apps, Cybersecurity oder die Netzwerkintegration in Krankenhäusern in dem Maße definieren, dass wir von standardisierten Anforderungen sprechen können. Für KI werden derzeit grundlegende ethische Grundsätze und Auswirkungen für die Gesellschaft diskutiert, ein regulatorischer Rahmen lässt sich somit noch überhaupt nicht festlegen.

Auch der allgemeine Rahmen ändert sich für Unternehmen

Und nebenbei ändern sich die allgemeinen Anforderungen an Unternehmen. Unternehmen sehen sich mit Lieferantenbeziehungen konfrontiert, die nicht auf Vertrauen, sondern einer klaren Definition von Verantwortlichkeiten im Bereich der Qualität basiert. Sämtliche Prozesse müssen in stärkerem Maße risikobasiert definiert und abgebildet werden. Der Nachweis der Wirksamkeit ist zu einem zentralen Thema der Prozessgestaltung geworden. Gleichzeitig werden neue Ansätze oder Lösungen im Rahmen der Managementsysteme ausprobiert. Agile Entwicklung ist hierbei kein Buzzword, sondern stellt bereits das Grundgerüst der Innovationen vieler Unternehmen dar, insbesondere bei Softwareentwicklungen. Digitalisierung, moderne Arbeitsmodelle, flache Hierarchien, Home-Office-Regelungen oder flexible Elternzeitmodelle werden die Unternehmen zusätzlich dazu zwingen, bestehende Strukturen zu hinterfragen.

Kontinuierliche Verbesserung ist das Stichwort unserer Zeit

Es ist Zeit umzudenken, um die Marktfähigkeit und Sicherheit der Produkte zu erhalten und gleichzeitig die unternehmensinterne und -übergreifende Arbeit sowie die damit verbundenen Prozesse ständig zu verbessern. Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass keine schwerwiegenden Vorkommnisse im Sinne der MDR dazu führen, dass strenge regulatorischen Leitlinien für neuartige Technologien erstellt werden müssen, sondern Best Practices gemeinsam erarbeitet werden können. Es stehen spannende Zeiten vor uns, die nur mit Neugier und Optimismus zu bewältigen sind.

So komplex und unstetig wie das Wetter

Meine Bekannte erzählte mir bei ihrem letzten Besuch von einem Body Weather* Workshop, den sie im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit besuchen wollte. Denn ähnlich wie das Wetter, verhält sich der Mensch komplex und in ständiger Veränderung mit seiner Umgebung.
Dieses Bild passt im Grunde auch auf die Medizinprodukteindustrie und all ihre Anforderungen. Vielleicht gehe ich das nächste Mal mit.


*Body Weather basiert auf der Arbeit des zeitgenössischen japanischen Tänzers Min Tanaka und wurde durch unabhängige Gruppen international weiterentwickelt. Es enthält Elemente des zeitgenössischen Tanzes, aber auch der Theaterperformance und des Martial Arts. Es werden mittlerweile in vielen größeren Städten Body Weather Workshops angeboten.

Über die Autorin: Claudia Dannehl

Dr. Claudia Dannehl ist Mitglied bei der DGQ und spezialisiert auf Medizinprodukte. Dr. Claudia Dannehl studierte Physik an der Universität Leipzig und schloss ihre Promotion in Biophysik an der Universität Potsdam ab. Im Rahmen ihrer Tätigkeit bei LINK Medical unterstützt sie insbesondere Startups beim Aufbau von QM-Systemen und dem Konformitätsbewertungsverfahren innovativer Produkte.

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