Warum verordnetes Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen nicht ausreichend wirkt28 | 01 | 21

Im Sozial- und Gesundheitswesen wurden früh Qualitätsmanagementansätze implementiert, die „aus der Industrie“ kamen und sich dort bewährt hatten. Die grundlegende Andersartigkeit sozialer und Gesundheitsleistungen am Menschen und der Organisationen, die sie erbringen, fand und findet auch heute dabei noch viel zu wenig Berücksichtigung.

Ich möchte vier Thesen aufstellen, die die Andersartigkeit aufzeigen und, wenn sie zutreffen, dabei helfen können, zu überlegen, an welchen Stellen wir ansetzen können, die Akzeptanz und Wirksamkeit des Qualitätsmanagements in Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens zu verbessern.

 

Erste These: Das Kosten-Qualität-Dilemma
Bis zu einem gewissen Grad kann Kosten- und somit Ressourceneinsparung mit Qualitätsverbesserung einhergehen. Dann sinkt die Qualität mit zunehmender Ressourcenreduktion. Geht die Reduktion zu weit, besteht die Gefahr, die Mindestqualität zu unterschreiten.

Es gibt zwei Modi der Verbesserung: zum einen die ressourcenneutrale Qualitätsoptimierung, zum anderen die qualitätsneutrale Ressourcenoptimierung. Kostensenkung und Qualitätsverbesserung gehen dann und dort zusammen, wo wir qualitätsrelevante Verschwendung reduzieren. Sind aber Blind- und Fehlleistung minimiert sowie die Effizienz maximiert, ist ein Kipppunkt erreicht und eine weitere Reduktion von Kosten führt zur Reduktion der Anzahl oder Qualität der Ressourcen. Es stehen weniger oder schlechter qualifiziertes Personal, weniger oder schlechtere Sachmittel zur Verfügung. Das wiederum verringert typischerweise die Ergebnisqualität. Im Sozial- und Gesundheitswesen wird an manchen Stellen im Zuge extern verordneter Ressourceneinsparung auch das Mindestqualitätsniveau unterschritten.

 

Zweite These: Das Professionendilemma
Die Dominanz einzelner Professionen erschwert oder verhindert systemisches Qualitätsmanagement in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens.

Die allermeisten Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens sind professionsgeprägt. Das heißt eine starke Profession dominiert über andere zur Leistungserbringung relevante, aber im Vergleich schwache, Professionen. Die starken Professionen (z. B. Ärzte) sehen sich durch systemische Qualitätsmanagementansätze darin bevormundet, klientenindividuelle, kompetenzbasierte Qualitätsentscheidungen zu treffen. Die schwachen Professionen (z. B. Pflegepersonal) können im System ihre Belange und Kompetenzen oft nicht angemessen einbringen. Beide hadern in Folge dessen mit dem QM-System, manche wehren sich passiv oder gar aktiv dagegen.

 

Dritte These: Das Objektivitätsdilemma
Der Abstand des theoriebasierten objektiven Wissens zur Empathie getriebenen subjektiven Wirklichkeit der Professionen und Klienten im Gesundheits- und Sozialbereich erzeugt eine Theorie-Praxis-Lücke.

Qualitätsmanagementsysteme folgen einem Organisationsverständnis, das funktional und effizienzgeleitet ist. Es rückt objektive Faktoren und Kriterien in den Fokus. Soziale Realitäten erfordern weit mehr. Das gilt in allen Organisationen, doch in der Dienstleistung am Menschen ist das von besonderer Relevanz und Wirkung. Die Individualität menschlicher Beziehungen, das soziale Netzwerk und die soziale Teilhabe sind schwer messbar, machen aber deren Qualität aus. Diese Qualität äußert sich in Subjektivität, Individualität und unzureichend validierbaren Größen wie individueller Lebensqualität. Emphatische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen oft intuitiv, was für einen konkreten Menschen zu tun ist, die Objektivität fordernden Systeme können damit kaum umgehen. Das Gesundheits- und Sozialwesen wird durch diese sozialen Realitäten geformt.

Sowohl in den regelgebenden politischen und Verbandsgremien als auch in den organisationinternen Systemkonzepten überwiegen meist theoretische, objektive über praktische, subjektive Erwägungen. Sie prägen somit mittelbar und unmittelbar die Qualitätsmanagementsysteme und ihre Akzeptanz und Wirksamkeit.

 

Vierte These: Das Überformalisierungsdilemma
Massive Überreglementierung und daraus resultierende Überformalisierung erzeugen Zielkonflikte und Dysfunktionalitäten, die Mitarbeiter in die „brauchbare Illegalität“ treiben, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Selbst wenn jede einzelne externe Vorgabe aus lauteren Motiven und in der Erwartung positiver Effekte auf die Leistungsqualität oder Ressourceneffizienz erfolgt, ist in Summe längst ein nicht mehr erfüllbares Konglomerat zum Teil widersprüchlicher und dysfunktionaler Regeln aus vielen verschiedenen Quellen und zu vielen unterschiedlichen Themen entstanden. Oft verstärkt interne Überformalisierung noch die externe Überreglementierung, weil Managementsystembeauftragte „auf Nummer sicher“ gehen wollen.

Leitungen und Führungskräfte können oder wollen viele der resultierenden Zielkonflikte und Dysfunktionalitäten nicht auflösen, sprechen sie oft nicht an oder negieren oder verharmlosen ihre Existenz und ihre Konsequenzen. Oft ist es ihr aktives Wegschauen, dass die „brauchbare Illegalität“ begünstigt, wissend und sich darauf verlassend, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eigenes Risiko lösen, was zu lösen ist. Davon profitieren sehr oft die Klienten und die Organisation kann trotz aller Widersprüche im Alltag funktionieren. Doch das Beugen und Brechen von Regeln nimmt auch das direkte Risiko in Kauf, Klienten zu schädigen und das indirekte, für den Regelbruch bestraft zu werden. Die formalen (Qualitäts)Managementsysteme ignorieren diesen Mechanismus weitgehend, Audits decken das Dunkelfeld der brauchbaren Illegalität nicht auf. So erfolgt eine Sozialisation zum Regelbruch, die die Akzeptanz und Wirksamkeit der eigenen Regelsysteme, unter anderem des Qualitätsmanagementsystems, nachhaltig untergräbt.

Hier und jetzt möchte ich noch gar nicht über konkrete Lösungsansätze sprechen, die sich aus diesen Betrachtungen ableiten lassen. Vielmehr möchte ich Kolleginnen und Kollegen aus Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens die folgenden Fragen stellen:

  • Sind dies Dilemmata, die Sie in ihren Organisationen auch erkennen? Wie äußern sie sich konkret im Alltag?
  • Sind dies Themen und Erklärungen, die Sie bereits im Blick haben und die in Ihrer Analyse bereits Berücksichtigung finden? Oder kommen hier für Sie neue Facetten ins Spiel, die uns vielleicht auch zu neuen Lösungsräumen und neuartigen Lösungen führen könnten?

Am 4. März werden mein Kollege Holger Dudel, Fachreferent Pflege der DGQ, und ich dieses Thema in einem mitgliederexklusiven Webinar vertiefen und weiterführen. Die Anmeldemöglichkeit für Mitglieder erfolgt in Kürze. Sollten Sie noch kein DGQ-Mitglied sein, haben Sie hier die Möglichkeit, sich kostenfrei für drei Monate zur Schnuppermitgliedschaft anzumelden und erhalten im Anschluss alle Details zum Webinar. Bis dahin freuen wir uns auf Ihr Feedback.

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

26 Kommentare bei “Warum verordnetes Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen nicht ausreichend wirkt”

  1. 4b99d05c2f6a954e5ab23246fbbb922f Ursel Stenkamp sagt:

    Ich teile die obigen Einschätzungen, füge aber noch einen weitere These an. Für viele MA führen die realen Bedingungen – und dazu zählt auch die erlebte QM-Realität – zu einem Wertekonflikt. Ein Wertekonflikt ist für die meisten Menschen kaum dauerhaft auszuhalten, diese reichen viel tiefer in die Persönlichkeit als „nur“ Zielkonflikte. M.E. trifft dies für alle sozialen Berufe in besonderem Maße zu, nicht nur im Gesundheits- und Pflegebereich.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Danke, völlig richtig, das geht noch viel tiefer als Ziel- und Ressourcenkonflikte. Das Thema nehme ich auf.

  2. 16dee997e7f52a36700ef49accbd2001 Almut Strathe sagt:

    Danke für den Impuls. Als Auditorin und Trainerin bin ich allerdings auch immer wieder erstaunt über den engen Rahmen, den sich die Betriebe selber setzen und über die Vorstellung, was ein QMS ist.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Ja, das fasziniert mich auch. Es gibt eine erstaunliche Enge und Konformität der Systeme und Vorgehensweisen. Und zwar seit vor ca. 20 Jahren in größerem Umfang und im Wesentlichen zunächst die Konzepte der Fertigungsindustrie übertragen wurden. Das hat bis heute den Rahmen gesetzt. Der enge Rahmen ließe sich doch leicht (?) sprengen. Ich sehe eine wichtige Aufgabe der DGQ darin, die Kolleginnen und Kollgen der Sozial- und Gesundheitsorganisationen darin zu bestärken, ganz neue, eigene, bessere Wege zu gehen.

      1. Die eher re-aktive Haltung des Pflegebereichs hat bisher kaum bis keine Ideen für ein eigenes innovatives und alltagstaugliches QMS hervorgebracht. Zudem ist dies die einzige Branche (m.E.), die ausschließlich für den Kernprozess eine Systematik mit Elementen aus dem QMS aufgebaut hat. Dies ist auch eher auf Controlling und nicht auf Entwicklung ausgerichtet. Hier fehlt also das Grundverständnis und das Wissen über die Möglichkeiten eines QMS.

  3. Vielen Dank – für mich ein sehr wichtiger Beitrag, gerade in einer Zeit, in der die Bedeutung und die Grenzen des Gesundheits- und Sozialwesens so dramatisch aufscheinen!

    Aus meiner Sicht zeigen sich in diesen Bereichen die Dilemmata, die generell dem „verordneten Qualitätsmanagement“ inhärent sind, deutlicher, da wir uns hier komplett im Feld der Komplexität bewegen und die Konsequenzen der Arbeit existenzieller Natur sind.

    Das Kerndilemma, aus dem die anderen, in dem Artikel aufgezeigten, resultieren, scheint mir das SINN-Dilemma zu sein. WOZU dient das verordnete Qualitätsmanagement mit seiner Tendenz zu Überregulierung, Überformalisierung etc.? Geht es hier ohne Wenn und Aber um die Förderung der individuellen Lebensqualität der Klienten oder wirkt hier auch eine hidden agenda? Ein aus Misstrauen in deren Kompetenz und Verlässlichkeit gespeistes Regime zur Steuerung und Kontrolle der operativen Mitarbeiter*innen? Ein System zur Ent-Haftung der Organisationen zulasten der Operateure?

    Ich meine, dass das von @Ralf Kohlen und mir entwickelte Qualitätsverständnis mit seinem Fokus auf den Sinn und die beteiligten Interessen, helfen könnte, auch im Sozial- und Gesundheitsbereich zu nachhaltiger Qualitätsverbesserung zu führen.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Meine Antwort auf Ihren Beitrag, Herr Müller ,habe ich versehentlich nicht im eingerückten Anwortmodus gepostet, sie steht somit wie ein neuer Beitrag weiter untern.

  4. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

    Die einschlägigen Sozialgesetzbücher fordern von den Erbringern unterschiedlicher Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen, Qualitätsmanagement zu betreiben. Das Bedürfnis des Gesetzgebers, Qualität und darüber hinaus Qualitätsmanagement mittels Gesetzen einzufordern, basiert im Wesentlichen auf den folgenden Motiven:
    • Es herrscht bei politisch Verantwortlichen die Wahrnehmung, dass Defizite in der Erbringung von Sozial- und Gesundheitsleistungen durch die Verpflichtung zu qualitätssichernden Maßnahmen beseitigt werden können. Gleichzeitig erscheint die Einschätzung verbreitet, die Professionen und Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens seien aus eigenem Antrieb nicht willens oder in der Lage, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Also muss der Gesetzgeber tätig werden, will er seiner Qualitätsverantwortung für die Empfänger der Sozial- und Gesundheitsleistungen nachkommen. Hinzu kommen volkswirtschaftliche, also finanzielle Überlegungen und Ziele. An den Diskussionsbeiträgen der politisch Verantwortlichen und auch mit Blick auf die Details des gewachsenen Gesamtkonglomerats an Maßstäben und Grundsätzen, Gesetzen und Ausführungsbestimmungen ist abzulesen, dass die Forderung nach Qualität und nach Qualitätsmanagement einhergeht mit der Vorstellung, auch mehr Kosteneffizienz zu erzielen.
    • Zudem ist die Wahrnehmung der Qualität der Leistungserbringung durch die Klienten, Patienten, Pflege- und Schutzbedürftigen, durch deren Angehörige sowie durch die Bürger allgemein, die allermeisten davon Wähler, ein gewichtiger politischer Faktor. Der Gesetzgeber muss ihnen zumindest seinen Willen, besser noch die Fähigkeit demonstrieren, die Qualität der Leistungen zu verbessern und Finanzmittel effizient einzusetzen.
    Eine Hidden Agenda erkenne ich nicht. Es gibt viele Agenden vieler institutioneller Interessengruppen, Parteien, Fachverbände, Bundesausschüsse, Parlamente, die sich zum Teil widersprechen. Aber eine Misstrauenskultur erkenne ich durchaus, verbunden mit einer Bevormundungskultur, die den Fach- und Arbeitsethos, das Qualitätsbewusstsein und die Menschenorientierung und auch die Professionalität und Kompetenz der Inhaberinnen und Inhaber der Gesundheits- und Sozialberufe kaum berücksichtigt und sich darauf nicht stützt. Schade. Die Menschen in diesen Branchen und Organisationen können und wollen mehr Qualität, als man ihnen zutraut.

    1. Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort, Herr Sommerhoff!
      Natürlich sind die gesetzlichen Vorgaben bestmöglich einzuhalten, so lange sie gelten. Ob man sie nun im Einzelnen für stimmig halten mag oder nicht. Das liegt im Interesse der Organisationen und der operativen Mitarbeitenden.

      Aber die auch von Ihnen wahrgenommene Misstrauens- und Bevormundungskultur dient sicher nicht den Klienten, nicht den Mitarbeitenden und letztlich auch nicht den Organisationen. Sie schadet der Qualität.

      1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

        Nein, diese Kulturen dienen nicht den Klienten, nicht den Mitarbeiterinnen, sie sind schädlich. „Der Staat“, Legislative und Exekutive, hat sie ja leider verinnerlicht, auch in der Pandemie überdeutlich erkennbar. Ich weiß nicht, ob sich so etwas „Mächtiges“ durchbrechen lässt, aber ich würde es nicht aushalten, nicht alles zu versuchen, daran mitzuwirken, dass es auf Feldern in denen die DGQ und ihre Mitglieder gestalten können, Besseres zu entwickeln.
        Sorge machen mir aber auch der wachsende Egoismus in der Gesellschaft, der zunehmende Regelbruch, die Disziplinlosigkeit zu Lasten vieler. Sie tragen mit zur Eskalation des Misstrauens und der Bevormundeung bei.
        In Organisationen, die Verantwortung für Therapie, Pflege, Erziehung, Begleitung von Menschen haben braucht es beides, Regeldisziplin und Spielräume. Zur Zeit stimmt die Balance offensichtlich gar nicht.

        1. Ja, Disziplinlosigkeit und Egoismus sind erschreckend und Gift für jeden sozialen Zusammenhalt. Meiner Einschätzung nach sind sie in erheblichem Maß die andere Seite von Misstrauen und Bevormundung. Wenn sich Menschen nicht für voll genommen fühlen, wird eine kindliche Bockigkeit aktiviert. Und anders herum wird verantwortungsbewusstes Handeln angeregt, wenn sich die Menschen als mündig angesprochen fühlen und ihren Beitrag gewürdigt sehen.
          Ich will hier kein asoziales Fehlverhalten reinwaschen. Und bei manchen scheint mir Hopfen und Malz verloren zu sein. Aber die grundsätzlichen Zusammenhänge sollten wir sehen und gemeinsam an der großen Aufgabe der Veränderung arbeiten. Ich bin sicher, dass wir mit Ihnen und MitstreiterInnen wie @Eva Christ und vielen anderen einen Unterschied machen können.

  5. 43166320b1c6108339e40fa59eb24b49 Eva Christ sagt:

    Lieber Herr Sommerhoff,
    Sie sprechen mir aus der Seele! Vielen Dank für das deutliche, unverblümte Zu-Wort-bringen dieser Realitäten, mit denen meine Einrichtung und ich als QMB tagtäglich konfrontiert sind.
    Ihre Thesen stellen m.E. z.T. noch konkreter bereits von uns identifizierte Unvereinbarkeiten des klassischen QM und der sDL heraus (FK-Artikel (QZ 63.2018) + darin veröffentlichte Grafik zu „Charakteristika in der sozialen Dienstleistung (sDL) und deren Bedeutung für QMS“).
    Vor allem These 3 + 4 treffen auf meine WfbM besonders zu:
    Unsere Organisationskultur ist tatsächlich fast „gezwungenermaßen“ von einer Sozialisation der „brauchbaren Illegalität“ geprägt, um trotz des unüberblickbaren Dschungels der (v.a. internen) Überformalisierung funktionieren zu können. Das macht das QM zu einem größtenteils lästigen, realitätsfremden Regelsystem, das kaum wirklich akzeptiert ist, geschweige denn als echter Unterstützungsprozess wahrgenommen wird. Eine Verschlankung unseres QMS wäre ein erster guter Schritt in die Gegenrichtung, aber wer will schon etwas aus „seinem“ doch so unabkömmlichen Prozess streichen? Sprich: Schon damit sind wir überfordert – der gute Vorsatz geht im Trubel „dringenderer & wichtigerer“ Alltagsanforderungen unter.
    Hinzu kommt in der Tat das Erleben der Mitarbeiter, dass die objetivierende Alles-ist-messbar-QM-Denke unsere Wirklichkeit nicht „abholt“, nicht versteht, worin die eigentliche Qualität unserer täglich geleisteten Arbeit liegt, die einfach nicht quantifizierbar ist. Mein Wahlspruch ist: „QM muss uns dienen – nicht wir dem QM.“ Leider wird das für meine Kollegen bisher nur in schwindend kleinen Anfängen sichtbar. Denn das QM hat sich noch nicht genug der sDL angepasst; es will ständig etwas von uns, anstatt uns spürbar nützlich zu sein/werden; das ploppt v.a. immer wieder vorm Audit auf. Deshalb wird es in WfbM vielerorts nach wie vor als „aufgepfropft“, als starrer Fremdkörper, wahrgenommen, anstatt als ein wachsweicher, befruchtender, stärkender Dünger, der alle Prozesse ganz natürlich durchzieht.
    Und nicht zuletzt sind die sDL abhängig von Leistungsträgern und verfügen nur über begrenzte Mittel, um z.B. die Berufliche Bildung mit zeitgemäßen, zukunftsträchtigen Bildungsmedien auszustatten, die unsere bewährte Methodik & Didaktik auch professionell unterfüttern (und weiße Arbeitsblätter nicht zur Lachnummer machen). => These 1

    Ich bin nicht so unzufrieden und schwarzmalerisch wie es in diesem Text scheinen mag; m.E. muss man als QMB sowieso ein unverbesserlicher Optimist sein, um überleben und erst recht etwas voran bringen zu können – gerade wegen dieses schlechten QM-Images. Aber genauso richtig ist es, die von Ihnen aufgezeigten Dilemmata einmal als solche zu benennen und gemeinsam zu überlegen, wie Knackpunkte zu lösen sind. Dabei will ich mich gerne beteiligen – es ist ein Lichtblick: der kollegiale Austausch unter Fachleuten, den ich an der DGQ schätze.

    In erwartungsvoller Vorfreude, Eva Christ.Kommentar

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Ich denke auch, dass rigorose Verschlankung des QMS in vielen Organisationen etwas Druck nehmen könnte. Allerdings ist es mit „Entrümpeln“ wohl nicht getan, oft erfordert das eine Neukonzeption. Darin liegt eine Chance, aber wir geht man saolch ien Projekt an, phne die Organiosation und die Kolleginnen udn Kollegen erneut temporär enorm zu belasten. Ich freue mich auf den Austausch dazu im DGQ Fachkreis QM in der Sozialen Dienstleistung und darüber hinaus.
      Schön Frau Christ, dass Sie als Optimistin an diese Themen herangehen.

  6. 8dec50bda25b367168df67d3603818ca Karlheinz Zacherl sagt:

    Zu den Fragen:

    Fragen: (Bezugspunkt: Langzeit – Pflege)

    Warum verordnetes Qualitätsmanagement im Sozial- und Gesundheitswesen nicht ausreichend wirkt

    1. Dilemmata sind seit „Jahrzehnten“ in der Pflege-Organisation gegeben;

    These: Kosten-Qualität
    Die Bilanz muss stimmen und die Gewinnorientierung auf das Maximum strapaziert.
    Eine qualitätsrelevante Verschwendung wird nicht akzeptiert. Dafür sorgen die gut ausgebauten Controllingsysteme. Pflege Unternehmen werden betriebswirtschaftlich geführt. Der Spagat zwischen Betriebswirtschaft und Pflege-Sozial-Lesitungen wird in der Regel von der Betriebswirtschaft dominiert.

    These: Professionen
    „Die Kriminalpolizei ist das Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft.“
    Die Profession der Mitarbeiter*innen (Pflege) ist das Hilfsorgan der Ärzteschaft. Die Profession der Pflege- Mitarbeiter+innen kann und darf ohne Prozessanweisung der Ärzteschaft keine Leistungen durchführen. Die rechtlichen Vorgaben sind hier eindeutig.

    These: Objektivität und Überformalisierung
    Hier liegt es eindeutig an den Verantwortlichkeit der Träger und seinen Leitungsfunktionen. Ein „Blick“ in die rechtliche Seite zeigt Freiheit in der Gestaltung und Umsetzung.

    SGB XI (§ 112.- § 120)
    Qualitätssicherung
    Auszug:
    … Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität, Qualitätssicherung und Qualitätsdarstellung in der ambulanten und stationären Pflege sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements, das auf eine stetige Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität ausgerichtet ist. In den Vereinbarungen sind insbesondere auch Anforderungen an eine praxistaugliche, den Pflegeprozess unterstützende und die Pflegequalität fördernde Pflegedokumentation zu regeln. Die Anforderungen dürfen über ein für die Pflegeeinrichtungen vertretbares und wirtschaftliches Maß nicht hinausgehen und sollen den Aufwand für Pflegedokumentation in ein angemessenes Verhältnis zu den Aufgaben der pflegerischen Versorgung setzen …

    2. Themen und Erklärungen sind schon lange im Blick und werden bei These Objektivität und Überformalisierung umgesetzt. Auch ohne Brauchbare Illegalität..

    ??? These Kosten-Qualität, kann nur verändert werden, wenn gesellschaftliche Veränderungen im Sozial- und Gesundheitswesen stattfinden ???

    — und bei These Professionen braucht es Brauchbare Illegalität.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Deiner ersten Anmerkung, lieber Karl-Heinz, möchte ich hinzufügen, dass Betriebswirtschaftlichkeit im Sozial- und Gesundheitswesen aus meiner Sicht nicht problematisch ist. Auf freieren Märkten entsteht für betriebswirtschaftlich geführte Unternehmen ja langfristig auch eine angemessene Balance zwischen Qualität und Ökonomie. Bei endlichen Ressourcen gibt es zudem auch im Sozial- und Gesundheitswesen ein Gebot der Ressourceneffizienz. man könnte sogar behaupten, Ressourcenineffizienz dort ist unethisch, weil sie anderen Bedürftigen ressourcen nimmt.
      Das besondere Dilemma erkenne ich hier darin, dass eben nicht die Klienten und „der Markt“ regeln, dass langfristig Qualität entsteht. Sondern dass durch externe Vorgaben massive Eingriffe erfolgen, die Zielkonflikte induzieren und dahin führen, dass Qualität de facto abgebaut und sogar Mindestqualitätsstandards unterschritten werden. Es herrscht eben eine „Pseudobetriebswirtschaftlichkeit“ die eigentlich eine dysfuktionale Planwirtschaft ist. Eine akzeptable Balance zwischen Ergebnisqualität und Ressourceneinsatz entsteht so eben offensichtlich nicht gut genug.
      Und noch etwas, was vermeintlich eine Spitzfindigkeit ist. „Qualitätsrelevante Verschwendung“ darf es meiner Ansicht nach auch gar nicht geben. Verschwendung gilt es zu minimieren. Statt Verschwendung ist in der sozialen und therapuetischen Arbeit am Menschen aber manchmal mehr Oppulenz nötig. Oppulenz kostet vielleicht so viel wie Verschwendung, ist aber nicht das selbe.

    2. Lieber Karlheinz Zacherl,

      obwohl ich in Sachen Pflege nur aus Laiensicht sprechen kann, wage ich ein Statement:

      Ich finde es sehr hilfreich, dass Sie das einschlägige Gesetz zitieren und damit klar machen, dass auch hier – wie vielfach in Bezug auf Normen – tatsächlich vorhandene Gestaltungsfreiräume nicht genutzt bzw. sogar entgegen der ausdrücklichen Intention des Gesetzgebers verbaut werden. Die aus der industriellen Fertigung wegen ihrer vermeintlichen Tauglichkeit auch in die Sozial- und Gesundheitsbereiche übernommenen QM-Rezepte richten dort noch größeren Schaden an, weil es sich um existenzielle menschliche Prozesse dreht, die mit diesen Methoden „gemanaged“ werden sollen.
      Nein, es braucht keine „qualitätsrelevante Verschwendung“, ich denke, es braucht auch keine „Opulenz“, sondern schlicht eine Be-Sinnung: Um was und um wen geht es hier? Was ist das Ziel, der Sinn und Zweck der Tätigkeiten? Wem haben wir zu dienen? Doch den Menschen und keinem bürokratischen System! Danach ist konsequent alles auszurichten, und zwar wertschöpfend, ohne Verschwendung!

      Dass das auch betriebswirtschaftlich möglich ist, dass gute Pflege und zufriedene Mitarbeitende sogar weniger kosten können als schlechte Pflege und frustrierte Mitarbeitende, zeigt das Beispiel Buurtzorg meines Erachtens in beeindruckender Weise. Grundlage ist Liebe zu den Menschen und Vertrauen in ihr Können und Wollen. Und der Mut, neue Wege zu gehen.

      Durchaus nicht nur im Sozial- und Gesundheitswesen, dort aber mit besonderer Dringlichkeit, müssen wir die Frage nach dem Sinn unseres Tuns stellen und radikal alles Sinnlose oder gar Sinnwidrige abschaffen. Ein überformalisiertes, auf Misstrauen basierendes QMS, gehört nach Überzeugung von @Ralf Kohlen und mir dazu.

  7. Lieber Benedikt,

    treffend auf den Punkt gebracht; vielen herzlichen Dank.
    Ich möchte zunächst eins der vier genannten Dilemmata aufgreifen, ohne damit eine Abwertung der anderen vornehmen zu wollen: Das Professionendilemma (am Beispiel der Pflegeberufe). Wie kann es denn sein, dass einer Berufsgruppe von außen/ per Gesetz Qualitätsvorstellungen hinein diktiert werden und zwar in einer Detailtiefe, die ihres gleichen sucht? Das habe ich mich oft in meiner beruflichen Praxis gefragt. Meine Antwort lautete meist: Weil keine/zu wenig eigene „Substanz“ da ist, was die Profession Pflege dagegen halten konnte. Weder ausformulierte Qualitäts-Vorstellungen oder gar eigene (QM-) Systeme noch die organisationalen Strukturen verbunden mit dem Mut die eigenen professionellen Vorstellungen vehement zu äußern/verteidigen. Ich glaube, das ist das, was Du mit „schwacher“ Profession meinst. Und warum ist das so? Weil unter anderem die Zugangsvoraussetzungen zu niedrig für die Anforderungen waren/sind. Nicht umsonst wird Pflege in vielen europäischen Ländern auf (Fach-) Hochschulniveau gelehrt. Ein höheres Bildungsniveau war für die just gestartete generalistische Pflegeausbildung auch mal angedacht/ geplant, wurde dann aber im politischen Klein-Klein wieder reduziert. O-Ton eines Politikers: ,,Wir dürfen keine einzige helfende Hand, egal mit welchem Schulabschluss, abweisen.“ Egal, ganz egal …: Ob „Schlecker Frauen“ oder ob in neuesten Imagefilmen für den Pflegeberuf geworben wird um junge Menschen, die schon mehrere Ausbildungen „geschmissen“ haben: Für die Pflege langt`s immer noch.
    Mir fallen noch weitere Erklärungsmuster ein, aber die würden hier den Rahmen sprengen, also wende ich den Blick nach vorne.
    Langsam aber sicher ändert sich etwas: Pflege hat inzwischen (wenn auch in einem immer noch zu kleinem Umfang) den Weg in die Hochschulen gefunden, Pflege forscht eigenständig, Pflege bringt eigene (Experten-) Standards heraus (und siehe da: die werden doch glatt als (eine) Grundlage externer Qualitätsprüfungen heran gezogen) und Pflege organisiert sich in Berufsverbänden und Pflegekammern. Außerdem ist Pflege inzwischen mitten in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit angekommen. Für mich sind das eindeutige Zeichen der Professionalisierung. Das wird mittel-/langfristig etwas bewirken, so meine Einschätzung.
    In diesem Sinne schaue ich in eine gar nicht so schlechte Zukunft und bin guten Mutes, dass sich durch die Reduktion oder (im schönsten Falle) Auflösung dieses Dilemmas auch die anderen Dilemmata in ihrem Spannungsverhältnis reduzieren.

    Viele Grüße
    Axel

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Gut, dass Du das so ansprichst, Axel. Bis vor einiger Zeit habe ich den Akademisierungsbemühungen vieler Berufe, darunter Phyiotherapie, Pflege, Hebammen, kritisch, sogar ablehnend gegenübergestanden. Bis ich verstand, dass das ein fundamentaler, notwendiger Schritt dahin ist, den dahinterstehenden Professionen mehr Gewicht zu geben. Auch dann wird noch keine Gleichgewichtigkeit mit den starken Professionen entstehen. Aber die Lücke verkleinert sich doch signifikant. Das keine völlige Nivellierung stattfinden kann, kann ich nachvollziehen und finde ich auch in Ordnung.
      Wichtig ist nur, nicht die Professionen gegeneinander auszuspielen. Ärrztinnen, Pädagoginnen, Psychologinnnen, Erzieherinnen, Pflegerinnen und viele mehr: wir brauchen das fachlich und menschlich gute Zusammenspiel aller am Menschen arbeitenden Professionen. Dazu gehört gegenseitige Achtung. Nicht zu vergessen auch, dass alle Professionen auch ihre Klientel aktiv einbeziehen und ebenso achten müssen. Und das dies die einzigen im Zusammenspiel sind, die dabei unprofessionell sein dürfen.

      1. Ich meinte auch nicht, dass jede*r studiert haben muss, der*die in der Pflege arbeitet. Auf den richtigen Mix kommt es an! Und für das fachlich gute Zusammenspiel von helfenden Professionen wurde mal das Case Management erfunden: „Dabei wird als Leistung die gesamte Unterstützung sowohl über einen definierten Zeitraum als auch quer zu bestehenden Grenzen von Einrichtungen, Dienstleistungen, Ämtern und Zuständigkeiten geplant, implementiert, koordiniert, überwacht und evaluiert.“ (Wikipedia). Denn die Gefahr sehe ich in der Tat auch: Jede*r will zwar nur das Beste für den Patienten/Klienten/Mensch, aber wenn hierbei jede Profession „wild drauf los handelt“ ist die Gefahr, dass dabei „viele Köche den Brei verderben“, durchaus gegeben.

        1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

          Nee, das meine ich auch nicht:
          Und hinsichtlich des Breis: Dazu gehört unbedingt, dass klar ist, wer Koch ist und wer Kellner. Und dass es sinnvoll ist, zwischen beiden Rollen zu unterscheiden, weil beide gebraucht werden.

  8. fa9ab4ab69d0c89cbd5949f666aeab38 Matthias Meyer-Krügel sagt:

    Ich glaube nicht, dass es nützlich ist, an Symptomen zu Verbessern. Ich sehe den Grund für die eigentliche „Nichtübertragbarkeit“ der für wirtschaftlich Systeme geschaffenen Qualitätsmanagementsysteme darin, dass der Regelkreis, welcher für ein Kunden-Lieferantensystem als Zweipunktregler konzipiert ist an soziale Systeme angepasst werden muss.
    Statt der zwei Interessenparteien Kunde (=Leistungsemfänger und Zahlender) und Lieferant (Leistungsgeber und Zahlungsempfänger) bei wirtschaftlichen Systemen existieren in sozialen Systemen in der Regel drei Parteien, die da sind : Leistungsgeber und Zahlungsempfänger (z.B. Krankenhaus), Leistungsempfänger (z.B. Patient) und Zahlender (z.B. Krankenkasse). Bei Schulen, Arbeitsämtern, und Kindergärten etc. liegt der Fall gleich. Auch hier sind drei Parteien am Regelkreis beteiligt.
    Einen solchen Regelkreis kann man aber nicht mehr mit einem Zweigrößenregler regeln.
    Um Qualitätsmanagementsysteme von rein wirtschaftlich orientierten Systemen bei sozial orientierten Systemen zur Anwendung zu bringen, muss der Regelkreis für soziale Systeme um eine Dimension erweitert werden. Statt eines Zweigrößenreglers muss also ein Dreigrößenregler im QM-System abgebildet werden. Dann kann man auch wieder zielorientiert mit Kenngrößen Optimierung betreiben.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Ja, die zusätzliche Instanz sehe ich als Facette des Kosten-Qualität-Dilemmas. Die anderen Besonderheiten und Dilemmata gilt es aber zusätzlich zu berücksichtigen. Ob zwei oder drei doer 17 Regler, ich denke, dass wir einen geringeneren Grad an „zentraler“ Beherrsch- und Regeklbarkeit haben, als sich viele Qualitätsmanagerinnen und Führungskräfte wünschen. Ob Ärztin, Sozialarbeiter oder Lehrer, einen bedeutenden Teil der Qualitätssicherung leisten die Professionsinhaber, wenn das System das zulässt und damit umgehen kann.

  9. 18b82f323b3455a06468ebff1ad65c65 Dr. med. Ulrich Kraft sagt:

    Eine Erklärung dafür, warum das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen vor besonderen Herausforderungen steht, habe ich immer darin gefunden, dass der Behandlungsablauf bei den einzelnen Patienten häufig sehr individuell ist, im Sinne einer Einzelfertigung – Handabeit eben. Dann bin ich darauf gestoßen, dass die Stückgrößen in der Automobilindustrie inzwischen auch bei Eins angekommen sind. Also doch vergleichbar?
    Aber es gibt doch noch einen Unterschied: In der fertigenden Industrie steht die Produktbeschreibung in der Regel zum Zeitpunkt des Beginns der Herstellung fest. Der Kunde hat seine Spezifikationen abgegeben und die Auswahl der gewünschten Features getroffen. Der gesamte weitere Prozess fokussiert auf die Realisierung des so definierten Produktes.
    Im Gesundheitswesen sind die Möglichkeiten und Ziele der Behandlung am Anfang oftmals noch ganz vage und werden dann erst im Laufe des Behandlungsprozesses weiter präzisiert. Zum Beispiel die Ermittlung der Insulindosis, mit der die Blutzuckerwerte bei einem Patienten mit Diabetes richtig eingestellt werden: Erst über wiederholte Dosisanpassungen wird die gewünschte Einstellung erreicht.
    Oder während einer Operation: Welche Strukturen sind vom Tumor befallen? Wie weit muss die Entfernung von umliegenden Organen ausgedehnt werden, damit eine komplette Entfernung eines Geschwürs gelingt? Ist die vollständige Entfernung des Malignoms überhaupt möglich? Müssen eine Strahlentherapie oder eine Chemotherapie angeschlossen werden?
    Sehr oft ist nur ein inkrementelles Vorgehen möglich, in dem Schritt für Schritt geprüft wird, was möglich und notwendig ist – Fahren auf Sicht. Durchaus im Sinne eines agilen Vorgehens wie es in einer VUCA-Welt jetzt zunehmend notwendig wird.
    Im Gegensatz zu in der Fertigung eingesetzten Materialien, deren Verhalten inzwischen extrem gut erforscht und vorhersagbar ist, sind die Reaktionen von Patienten oft sehr individuell. Die Eigendynamik des biologischen Systems eines Patienten reicht bis hin zu Allergien, Sepsis, Schock und Herzstillstand, die noch immer schwer vorhersagbar sind.
    Ein direktes Zusteuern auf einen gewünschten Zustand ist damit im medizinischen Umfeld nicht immer möglich, was eine QM-Unterstützung sehr anspruchsvoll macht.
    Ich habe diesen Beitrag gestern schon einmal in den Blog geschrieben, konnte Ihn aber heute nicht wiederfinden. Ich fürchte, er ist an der FireWall hängen geblieben. Sollte er nun doch zweimal eingestellt sein, bitte ich um Löschung des gestrigen Eintrags.

    1. 12fad89dbfa0bd7577219e8081bbd19e Benedikt Sommerhoff sagt:

      Ich freue mich sehr, dass Sie Ihre Sichtweise als Arzt einbringen, vielen Dank dafür. Sie haben auch aufgezeigt, wie anders Individualität in der medizinischen Behandluhg ist, als die „Losgröße-Eins-Fertigung“ eines produkzierenden Unternehmens. In der Produktion ist jede Individualität vorab definiert und bewegt sich damit immer in einem begrenzten Spektrum vorab definierter Spezifikationen. Am Patienten muss aber Ihre professionelle Autonomie greifen dürfen. Auch ist, wie Sie beschreiben, ein Behandlungsergebnis nicht vorhersagbar, ein Produktionsergebnis durchaus. Die Mitwirkungspflicht des Patienten und die enorme Komplexität erfordern ein kompetenzbasiertes „agiles“ Vorgehen. In der Produktion müssen 100% der Teile nach Spezifikation erzeugt werden. In der Therapie können Gremien und Kollgien durchaus Spezifikationen definieren und tun dies ja auch. Es liegt aber in der Befugnis und Verantwortung der behandelnden Ärzte und Ärztinnen, sich davon zu lösen, wenn die notwendigen Wirkungen nicht eintreffen und stattdessen anderes zu tun. Dabei leitet sie Kompetenz und Verantwortung. Professionsinhaber wehren sich zu Recht gegen Sytsme, die Ihnen das erschweren. Allerdings müssen Gesundheitsorganisationen widerum aus Gründen der Ressouceneffizienz einfordern dürfen, dass die Professionsinhaber durchaus einem Standardprozess oder klinischen Pfad dann und so lange zu folgen haben, wie ein Abweichen davon nicht medizinisch geboten ist.
      Aus meiner (externen) Sicht gilt es also, der Kompetenz und Verantwortung der Professionsinhaber viel Raum zu geben und Systeme diesbezüglich nicht übergriffig zu gestalten. Und anderersseits eine Führungskultur zu leben, die auch das für gemeinsame Standards notwendige Maß an Disziplin einfordert. Im Zweifel gilt aber in der Behandlung von Menschen: individuelle Aktion geht vor standardisierter Aktion.
      In der Serienfertigung aber gilt: der Standard ist immer zu erfüllen, es darf keine Abweichung davon geben. Taugt der Standard nicht, müssen wir einen neuen, besseren kreieren.

    2. Vielen Dank für diesen Beitrag, Herr Dr. Kraft! Sie beschreiben sehr klar, dass und warum medizinisches Vorgehen individuell und hoch flexibel sein muss. Zu Recht sehen Sie hier auch Ähnlichkeiten mit dem inkrementellen Vorgehen etwa in der Softwareentwicklung. Und Sie stellen fest, dass „QM-Unterstützung sehr anspruchsvoll“ ist.
      Ja, das sehe ich auch so. Sogar weitergehend, dass QM in der konventionellen Form für Bereiche wie Medizin, Softwareentwicklung und immer mehr Branchen und Tätigkeiten in der VUCA-Welt zunehmend dysfunktional wird. Um Qualität unter solchen Bedingungen zu erzeugen, braucht es Kompetenz im Umgang mit und in komplexen Systemen. Eine zyklische Vorgehensweise nach dem Muster ship (oder act) – sense – respond (also etwas tun, dann spüren, was passiert und darauf wiederum antworten, usw.) im Rahmen einer geklärten (aber vielleicht auch unterwegs anzupassenden) Zielsetzung halte ich für umfassend geeignet. Und das ist nicht das Gleiche wie PDCA und es wird sicher nicht für alle Konstellationen, die sich in den Zyklen einstellen können, eine detaillierte Prozessbeschreibung geben können. Persönliche, fachliche, Prozess- und Sozialkompetenz und die Haltung der Achtsamkeit sind die wesentlichen Qualitätsfaktoren. Qualität zu fördern heißt somit vor allem diese Kompetenzen und Haltungen zu fördern.

  10. 8dec50bda25b367168df67d3603818ca Karlheinz Zacherl sagt:

    Der Beitrag von Dr. med. Ulrich Kraft zeigt klar und unmissvertsändlich die Zieldefinition im Gesundheitswesen auf. Der Beitrag zeigt auch deutlich, das die Erkenntnisse aus dem QM der Industriebereiche eingeflossenen sind und auch weiter einfließen. Hier gibt es gute Grundlage – Parallelen. Die Spreu muss sich aber vom Weizen trennen. In der Industrie geht es um ein Produkt. Im Gesundheitswesen geht es um den Menschne. Der Beitrag zeigt anschaulich das Dilemma der Objektivität. Theorie sucht Umsetzung (Transformation) in der Praxis. Beispiel: Diabetes. Besten Dank Dr, med. Kraft für Ihren Beitrag.

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