So sieht’s aus – eine andere Art von QM-System24 | 11 | 21

Seit einiger Zeit befasse ich mich mit der Wirksamkeit und der Akzeptanz von Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung, der QM-Systeme und ihrer Methoden und Werkzeuge. Es gibt zu viele Fehler, Reklamationen, Rückrufe und scheiternde Projekte, als dass wir überall mit dem QM zufrieden sein könnten. Auch die Akzeptanz lässt in vielen Belegschaften und Leitungen zu wünschen übrig. Hinzu kommt: Neue und neuartige gesellschaftliche, rechtliche und politische Entwicklungen, Technologien, Geschäftsmodelle und Produkte stellen neue Anforderungen ans QM. Die Digitalisierung bietet aber auch viele Möglichkeiten, die wir bisher noch recht spärlich nutzen. All das ist Anlass genug für die DGQ, nach neuen Lösungen, Innovationen, für das QM zu suchen.

In diesem Kontext frage ich mich? Gibt es eigentlich eine andere Art von QM-System, als die, die uns typischerweise in den Unternehmen begegnet. Und was charakterisiert die allermeisten, typischen QM-Systeme eigentlich?

Ein typisches – ich nenne es einmal Standard-QM-System – ist sehr stark durch die ISO 9001 und ihre Branchenvarianten geprägt. Als die Norm vor fast 40 Jahren den damaligen Stand des Wissens über QM-Systeme abbildete, hatten serienfertigende Unternehmen seit Jahrzehnten das Qualitätsmanagement und seine Konzepte und Methoden geprägt. Die Norm wurde seit 1987 erheblich weiterentwickelt. Heute besteht Konsens, dass sie auf alle Arten von Organisationen anwendbar ist; und dass sie ausreichend große Spielräume für sehr unternehmensindividuelle Ausgestaltungen von QM-Systemen ermöglicht. Das Spektrum der Individualisierung ist in der Praxis jedoch erstaunlich klein. QM-System und ihre Dokumentation sind einander auch in sehr unterschiedlichen Unternehmen erstaunlich ähnlich. Seit Jahrzehnten fremdeln vor allem Dienstleistungsunternehmen mit den nach wie vor von der Serienfertigung geprägten Interpretationen von QM. Neu hinzu kommen die, die sich sehr weitreichend agil aufgestellt haben. QM-Training, -Beratung und -Auditierung haben nach meiner Beobachtung erheblich zu Verfestigung und gewissermaßen zur Standardisierung und zur Verfestigung jahrzehntealter QMS- Interpretationen und -Lösungen beigetragen.

Heute herrscht weit verbreitet eine administrationsgestützte Qualitätssicherung vor, die darauf baut, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter feinziselierte Regeln und ins kleinste Detail festgelegte Prozessschritte einhalten. Nach wie vor ein gutes Konzept für die Serienfertigung, weil sich Prozessstreuungen derart minimieren lassen. Aber ist es das auch für andere Bereiche des Unternehmens und für andere Arten von Unternehmen? Denn was in einer Produktion angemessen und richtig ist, führt anderswo im Unternehmen zu Frust und Systemversagen. Was wäre die Alternative?

Nachdem ich mich in den letzten Monaten intensiv mit Compliance, Überformalisierung, Regelbruch einerseits und mit Qualitätsverantwortung, Arbeitsmotivation, Qualitäts- und Fehlerkultur andererseits befasste, zeichnete sich für mich als alternatives Prinzip eine professionsgestützte Qualitätssicherung ab, die darauf baut, dass jeder eigenverantwortlich das Richtige tut.

Klar, eigentlich wollen wir, dass unsere Regeln so gut sind, dass wir das Richtige tun, wenn wir zum Wohle der Qualität Regeln einhalten. Zu häufig aber halten wir Regeln zu Lasten der Qualität ein. Oder wir simulieren die Regeleinhaltung nur. Wäre es da nicht besser, zum Wohle der Qualität gegen Regeln zu verstoßen?

Ist ein professionsgestütztes System möglichweise eine andere Art von QM-System? Und was ist nun daran anders? In der folgenden Tabelle habe ich Attribute von professions- und administrationsgestützter Qualitätssicherung gegenübergestellt, damit der Unterschied noch klarer wird.

professionsgestützte Qualitätssicherung administrationsgestützte Qualitätssicherung
auf professionelle Werte gestützt (Fachethos) auf externe Instanzen gestützt
individualistisch paternalistisch
handlungsautonom und -autark weisungsgebunden
kompetenzbasiert („Ich weiß, ich kann!“ regelbasiert („Du musst, Du sollst!“
vertrauend misstrauend
„selbstheilend“ erfordert korrigierende Eingriffe
meins eures

Das Gesundheitswesen ist für mich ein anschauliches und erschreckendes Beispiel für eine von bis zur Dysfunktionalität überreglementierte Branchen. Dort zwingen gut gemeinte aber im überbordenden Zusammenspiel schlechte Regeln und Vorgaben Menschen zu Schritten, die schlecht für therapeutische und pflegerische Qualität und somit schlecht für Patienten sind. Verantwortliche machen nutzlose Dinge, um sich juristisch abzusichern („unbrauchbare Legalität“*) und unterlassen nützliche, weil sie dafür bestraft werden können. Sind wir wirklich überraschst, dass sie ein dies verlangendes QM nicht lieben? Dass es zum Funktionieren der Leistungserbringung immer wieder nötig ist, offen oder heimlich gegen Regeln zu verstoßen („brauchbare Illegalität“*) Dabei sind diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort ganz hervorragend und langjährig ausgebildet. Sie benötigen eigentlich eine hohe Handlungsautonomie und -autarkie, um an ihren Patienten das Richtige und das Beste zu tun. Sie bräuchten mehr Zeit am Patienten und verbringen stattdessen mehr Zeit „im System“. Politische Entscheider und Branchengremien versuchen durchaus die Situation zu verbessern, aber mit mehr vom Gleichen, also mit mehr und detaillierteren Regeln. Mehr Wirksamkeit entsteht so offensichtlich nicht und die System-Akzeptanz sinkt weiter. Wie sieht das in Ihrer Branche aus? Gibt es auch dort eine extreme Juristifizierung des Systems? Und geht das mit einem Gewinn oder Verlust von Ergebnisqualität einher?

Wie ober gesagt, das klassische System ist in Teilbereichen bestimmter Organisationen agemessen und gut. Aber darüber hinaus? Vielleicht sind einige nun versucht zu sagen, bei uns ist das anders, unser administrationsgestütztes QM-System funktioniert und ist akzeptiert. Oder sie deklarieren es zum professionsgestützten System. Da bleibe ich misstrauisch. Praxis und Theorie, gelebtes Realsystem und propagiertes Papiersystem, verstecktes Biegen, Beugen und Brechen von Regeln und zur Schau getragene Simulation der Einhaltung von Regeln klaffen in immer mehr Unternehmen weit auseinander.

Warum also nicht einmal überlegen, ob es eine andere Art von QM-System geben kann? Eines, das auf großen Spielraum für hochqualifizierte Profis baut, deren Fachethos und Qualitätsstolz sie meistens das genau Richtige tun lässt.

*) Der Begriff „brauchbare Illegalität“ ist auf den Soziologen Niklas Luhmann zurückzuführen. Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie der Universität Bielefeld, befasst sich intensiv mit dem Phänomen. [Kühl, Stefan (2020): Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Campus Verlag, Frankfurt]

Den Begriff „unbrauchbare Legalität“ kreierte Dr. med Stefan Pilz, für einen gemeinsamen Artikel einer Autorengruppe von DGQ und GQMG (Gesellschaft für QM in der Gesundheitsversorgung e.V.) [Holtel, Markus; Pilz, Stefan; Richter-Heinz, Susanne; Sommerhoff, Benedikt (2021): Wege aus der unbrauchbaren Legalität. in f&w 12/2021 https://www.gqmg.de/gut-informiert/wege-aus-der-unbrauchbaren-legalitaet-289/

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

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