Risikomanagement für Medizinprodukte – Missverständnisse um den Einsatz der FMEA22 | 09 | 21

Risikomanagement für Medizinprodukte

Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass mir bei einer Schulung zu normativen Anforderungen und dazu konformer Umsetzung eines Risikomanagementsystems für Medizinprodukte gemäß der internationalen und harmonisierten Norm EN ISO 14971:2012 erstmals eine recht kategorisch vorgetragene Behauptung begegnete, die sich so hartnäckig fest gesetzt hat, wie ich sie persönlich für falsch halte. Sie begegnet mir seitdem bis heute des Öfteren in unterschiedlichen Ausprägungen und sie erzeugt viel Verunsicherung und fragende Blicke.

Verbotene Methode?

Es geht um die Anwendung der FMEA-Methode zur Bewertung von Gefährdungen für Patienten sowie Anwender von Medizinprodukten über den gesamten Produktlebenszyklus von der Entwicklung bis zur sachgerechten Entsorgung und Vernichtung.

„Benutzen Sie nicht die FMEA zur Bewertung von Risiken!“ hieß seinerzeit die These des Referenten, die vielfach als Verbot dieser Methode missverstanden wird.

Perfekt wurde die Verwirrung mit Behandlung der Inhalte von Anhang D der EN ISO 14971:2012. Dieser (nicht normative sondern informative!) Anhang beschreibt grundsätzliche auf Medizinprodukte anzuwendende Risikokonzepte, an denen sich der Anwender bei der Ausgestaltung seines Systems zur Bewertung von potenziellen Gefährdungen und Gefährdungssituationen orientieren kann. Die methodischen Ähnlichkeiten zu einer FMEA, wie in DIN EN 60812 definiert, sind doch nicht von der Hand zu weisen, wozu dieser kategorische Ausschluss des Referenten?
Mit der Methode an sich war diese Meinung des Referenten nicht zu begründen, der Knackpunkt musste woanders gesucht werden.

Same, same but different: Knackpunkt Risikoprioritätszahl

Nach der Schulung ist vor der Arbeit und so wurde mir die grundlegende Renovierung des Risikomanagementprozesses unserer Organisation in die Hand gelegt. Mit dem Aufbau unserer produktspezifischen Risikomanagementakten wurden auch eine Risikopolitik und normkonforme Bewertungskriterien etabliert, die sowohl ein Abschätzen der Schwere des potenziellen Schadens (S) als auch dessen Wahrscheinlichkeit des Eintretens (W) ermöglichen.

Beide Dimensionen sind Bestandteil der aus der Methodik für Prozess-FMEA bekannten Risikoprioritätszahl (RPZ), die dazu mit der dritten Dimension, der Entdeckungswahrscheinlichkeit (E) anhand der Formel [S x W x E = RPZ] verknüpft werden. Den Dimensionen werden Zahlenwerte zwischen 1 und 10 zugeordnet, sodass sich je Risiko Werte im Bereich zwischen 1 und 1000 ergeben, die ab einem definierten Schwellenwert Maßnahmen zur Fehlervermeidung erforderlich machen.

Von diesem Bewertungskonzept sollte sich lösen, wer die FMEA-Methodik zur normkonformen Bewertung von Risiken für Medizinprodukte verwendet, da hierbei die Dimensionen nicht gewichtet werden. So könnte ein katastrophaler Schaden, der sich bei der Anwendung von Medizinprodukten meist durch schwerwiegende Gesundheitsschädigung oder Tod des Patienten auswirkt, kombiniert mit niedriger Auftretenswahrscheinlichkeit und hoher Entdeckbarkeit dazu führen, dass das Risiko dieses potenziell tödlichen Ereignisses als akzeptabel bewertet werden könnte.
Durch fehlende Gewichtung der Dimensionen sind die Faktoren zudem austauschbar und erzeugen in verschiedenen Kombinationen die gleiche RPZ. Dieses Problem wird auch nicht dadurch gelöst, dass die Entdeckungswahrscheinlichkeit nur in dem Maße in die Betrachtung einfließt, in dem die Entdeckung vorbeugende Maßnahmen im Rahmen der ISO 14971:2019 ermöglicht. Da dies für unsere Anwendungen nicht der Fall ist, wird auf die Einbeziehung der Entdeckungswahrscheinlichkeit grundsätzlich verzichtet.

Ein möglicher Ausweg

…ist die geschickte Definition der Wertebereiche für die halbquantitative Wahrscheinlichkeitsachse und der qualitativen Schweregradachse für die verwendete Risikomatrix im Risikomanagementplan, die wie im folgenden Beispiel gewählt werden können:

Die Niveau-Achsen werden nachfolgend in der Risikoakzeptanzmatrix gewichtet dargestellt. Hierbei kommen die RPZ jeweils nur einmal in der Matrix vor und ergeben somit ein klares Bewertungsergebnis hinsichtlich der Akzeptanz des potenziellen Risikos.

Fazit

Spätestens mit der Veröffentlichung des ISO/TR 24971:2020, der als Handlungsleitfaden zur Umsetzung der EN ISO 14971:2019 publiziert wurde, sollte sich das Missverständnis um ein FMEA-Verbot eigentlich erledigt haben, da in Anhang B „Techniques that support risk analysis“ unter anderem auch explizit die FMEA als hilfreich aufgeführt wird.

 

Referenzen:

EN ISO 14971:2019
ISO/TR 24971:2020
EN ISO 60812:2005
Thematische Verknüpfung: https://blog.dgq.de/ein-restrisiko-bleibt-immer-bestehen-risikomanagement-fuer-medizinprodukte/

 

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Über den Autor: Jörg Brokmann

Jörg Brokmann, geboren 1976 in Ilmenau, ist staatl. gepr. Physikalisch-technischer Assistent, lebt und arbeitet seit 2003 in Berlin, ist seit 2015 zertifizierter QB und QM für ISO 9001 mit umfangreicher Praxiserfahrung im Qualitätswesen unterschiedlichster Ausprägungen, normativen Anforderungen und Gewerke. Seit 2018 beschäftigt sich das aktive DGQ-Mitglied mit Qualitätssicherung, Risikomanagement, internem Audit und regulatorischen Angelegenheiten bei einem Hersteller von Medizinprodukten der Klassen I und IIa.

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