Entlassungsmanagement: Das Überleitungs-Dilemma8 | 03 | 22

Intensiv habe ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Fachreferent Pflege auch mit dem Entlassungsmanagement beschäftigt. Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe von Experten des DGQ-Pflege-Online-Treffpunkts haben wir dieses Thema bearbeitet und einen Überleitungsbogen entworfen, der sich gerade in der Testphase befindet. Kürzlich habe ich bei einer Entlassung persönlich erfahren, welche Schwachstellen das gelebte Qualitätsmanagement im Umfeld der klinischen Pflege aufweisen kann.

Ausgangslage

Das Entlassungsmanagement ist ein Teil des QM im Krankenhaus. Es ist im Ganzen eine hoch komplexe Aufgabe. Alle beteiligten Professionen stehen über die Grenzen der jeweiligen Einrichtung hinweg in direkter Verbindung, um den Versorgungsprozess und damit die Gesundheit von schutzbefohlenen Menschen sicherzustellen.

Mit „Entlassen“ ist das Verlassen einer Patientin oder eines Patienten von einer versorgenden Einheit in eine andere Lebenssituation gemeint. Das kann zum Beispiel ein anderer Bereich im Krankenhaus sein, eine Überleitung in die Rehabilitation oder das Entlassen nach Hause. In jedem Fall muss im Zuge des Entlassungsvorgangs geprüft werden, ob sich pflegerischer Bedarf ergibt. Dazu gibt es gesetzliche Vorgaben, Verträge zwischen Kassen und Krankenhäusern und auch einen Pflegestandard. Alles in allem ein hoch strukturierter und reglementierter Prozess.

Fallbeschreibung: Entlassung

Die beinahe 90-jährige Frau Haller (Name geändert, Anm. d. Red.) aus der nahen Bekanntschaft hatte sich zwecks Klärung unklarer medizinischer Befunde zur weiteren Untersuchung in ein Krankenhaus begeben. Dort wurde ein großer Darmtumor festgestellt und operiert. Es handelte sich um eine umfangreiche Bauch-Operation, die für die alte Dame einen sehr schweren medizinischen Eingriff bedeutete. Anschließend kam es kurzzeitig zu Komplikationen, die man mit Antibiotika in den Griff bekam. Von der Einweisung bis zu diesem Zeitpunkt waren ungefähr zwei Wochen vergangen.

Gewöhnlich – und das schlug man auch Frau Haller vor – schließt sich an einen solchen Eingriff eine Anschlussbehandlung in einer Reha-Einrichtung an. Außerdem ist in einem so fortgeschrittenen Alter und nach einer großen Bauchoperation mit Komplikationen in jedem Fall zu klären, ob es nach der Entlassung pflegerischen Versorgungsbedarf gibt. Dazu sind laut Standard auch die Angehörigen einzubeziehen.

Als Angehöriger und im Pflegefall direkt Betroffener habe ich von mir aus das Gespräch mit dem Krankenhaus gesucht. Meine Ansprechpartnerin war aber – abweichend vom Standard – der Sozialdienst der Klinik. Das ist häufig so, weil dort viele Informationen zusammenlaufen und der Sozialdienst meist die Organisation der Weiterversorgung von Patientinnen und Patienten übernimmt. Man versprach mir, mich über die weiteren Schritte bei der Reha und zur Organisation einer eventuell anschließenden häuslichen pflegerischen Versorgung auf dem Laufenden zu halten.

Am Donnerstag der dritten Woche, in der sich Frau Haller auf dem Weg der Besserung noch im Krankenhaus befand, sprach ich mit ihr über die gesundheitlichen Fortschritte. Sie sagte, dass sie zwar mittlerweile vom Bett aufstehen könne, aber noch nicht in der Lage sei, Treppen zu steigen oder ohne Hilfe in den schönen Garten des Krankenhauses zu gehen. Umso größer war die Überraschung, als mich Frau Haller am Nachmittag des kommenden Tages von daheim anrief und erzählte, dass man sie entlassen habe – sozusagen direkt ins Wochenende.

Zufallsmanagement und Kommunikation

Die unvorhergesehene Entwicklung erklärte Frau Haller wie folgt: „Der Arzt hat mich bei der Visite gefragt, ob ich wirklich zu ganz vielen alten Leuten in eine geriatrische Reha-Einrichtung entlassen werden wolle, um dort für drei Wochen wieder in Schwung zu kommen. Da habe ich natürlich ‚nein‘ gesagt, es ist ja alles nicht so schlimm.“

Tatsächlich war Frau Haller aber nicht einmal in der Lage, sich selbst etwas zu Essen zu kochen, geschweige denn einkaufen zu gehen. Sie lebt alleine in einer kleinen Wohnung in einem Mietshaus. Schnell und unvorbereitet musste sich das private Netzwerk auf die neue Situation einstellen und das Lebensnotwendige organisieren, um die Versorgung zu sichern. Die Rekonvaleszenz ist nun nach mehreren Monaten noch nicht abgeschlossen. Immerhin kann Frau Haller jetzt wieder weitgehend allein ihren Haushalt führen, soweit ihre Kräfte es eben zulassen.

Mit der frühzeitigen Entlassung ohne Einbeziehung der Angehörigen hatte dieser Fall aber noch nicht sein Ende. Auf eine schriftliche Beschwerde bei der im Qualitätsmanagement des Krankenhauses verorteten Stelle geschah bis auf eine Empfangsbestätigung für eine Weile erst einmal nichts. Die Beschwerde bezog die oben genannten Vorgaben für das Entlassungsmanagement ein, wie sie sich aus Gesetzeslage, Rahmenvertrag und Pflegestandard ergeben. Es war eine Anfrage an das Krankenhaus formuliert, weshalb in dem geschilderten Fall bei Frau Haller von allen Vorgaben abgewichen wurde.

Nach ein paar Wochen meldete sich der Sozialdienst und entschuldigte sich mündlich nachträglich für die mangelnde Kommunikation. Außerdem versprach man eine schriftliche Stellungnahme zu der Angelegenheit. Die ließ abermals auf sich warten und kam dann nach weiteren Wochen erst auf erneute schriftliche Erinnerung, insgesamt fast drei Monate nach der Aufnahme von Frau Haller in das Krankenhaus. Verfasser war der Chefarzt der versorgenden Abteilung, der gleichzeitig das Qualitätsmanagement leitet. Der Wortlaut ist wie folgt: Der Sozialdienst (Zitat:) „hat uns mitgeteilt, dass Sie bezüglich Ihrer Beschwerde ein längeres telefonisches Gespräch mit Ihnen geführt hat. Eine weitere schriftliche Stellungnahe unsererseits wird nicht erfolgen.“

Lücken im QM

An dem geschilderten Fall kann man eine Reihe von Schwachstellen in mehreren Management-Bereichen der Klinik beobachten:

Versorgungsmanagement

Öffentliche Krankenhäuser haben einen Versorgungsauftrag. Der ist gesetzlich geregelt. Darin ist eine „angemessene Anschlussversorgung“ festgeschrieben, die ausdrücklich die Pflege einbezieht. Bei der Beurteilung der Versorgungssituation von Frau Haller nach ihrer Entlassung hat zumindest keine hinreichende Informationssammlung stattgefunden, die für eine angemessene Versorgung im Anschluss an die Entlassung erforderlich gewesen wäre. Die Pflege ist nicht in Erscheinung getreten, Angehörige wurden nicht informiert, eine bereits in Aussicht gestellte Anschlussbehandlung wurde sogar kurzerhand abgeblasen.

Entlassungsmanagement

Kliniken erhalten für ihre Leistungen Vergütungen von den Krankenkassen. Die Entlassung ist Teil des Leistungskatalogs und in Rahmenverträgen zwischen Kassen auf der einen und Krankenhäusern sowie Reha-Kliniken auf der anderen Seite geregelt. In §3, Absatz 1 des Rahmenvertrages zwischen Krankenhäusern und Kassen heißt es dazu, Zitat: „Das Krankenhaus stellt ein standardisiertes Entlassmanagement in multidisziplinärer Zusammenarbeit sicher und etabliert schriftliche, für alle Beteiligten transparente Standards (z.B. für die Pflege: Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege).“ Ob die Klinik über eine Richtlinie zum pflegerischen Entlassungsmanagement verfügt, ist nicht bekannt. Da es sich in der vertraglichen Regelung um eine Soll-Vorschrift handelt, gibt es diesen Standard aber vermutlich nicht. Jedenfalls deutet in dem geschilderten Fall nichts auf eine ordentliche Prozessbeteiligung der Pflege hin.

Der Pflegestandard „Entlassungsmanagement“ sieht die Einbeziehung der Angehörigen und auch die Kontaktaufnahme durch die verantwortliche Pflegekraft mit entlassenen Patientinnen und Patienten innerhalb von 48-72 Stunden nach der Entlassung vor. Die Pflege ist in diesem Sinne aber überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Tatsächlich ist in der klinischen Pflegepraxis dieser Standard relativ unbekannt, obwohl er – wie oben geschildert – sogar in dem Rahmenvertrag der Krankenhäuser mit den Kassen erwähnt wird.

Die Überleitung

Der Sozialdienst ist, sofern das Entlassungsmanagement noch maßgeblich in der Einrichtung betrieben wird und nicht outgesourcet ist, die zentrale Überleitungseinheit vieler Kliniken in Deutschland. Problematisch wird es, wenn „Fälle“ wie der von Frau Haller einfach dort von krankenhausinternen Stellen quasi abgegeben werden und alles Weitere diesen fachfremden Personen überlassen wird. Denn eigentlich sieht zeitgemäßes Entlassungsmanagement eine multiprofessionelle Fallbearbeitung vor, bei der jedes Fachgebiet abgestimmt den jeweiligen Versorgungsbedarf bearbeitet. Die Vereinbarung dazu steht auf dem Papier, in der Praxis handelt man anders.

Das Qualitätsmanagement

Das Qualitätsmanagement ist in Kliniken äußerst medizinisch orientiert. Das mag nicht überraschen, schließlich geht es ja vermeintlich nur um die Behandlung von Krankheiten. Diese Perspektive spiegelt sich auch in den Qualitätsdaten wider, die seitens der Krankenhäuser als Beleg für die Erfüllung ihres Versorgungsvertrages regelmäßig an die Datenauswertungsstelle der Kassen gemeldet werden. Darin gibt es unter vielen medizinischen Fragestellungen lediglich einen einzigen pflegerischen Qualitätsindikator, nämlich den der Dekubitusprophylaxe. Tatsächlich wäre aber ein Genesungsprozess nicht ohne die fachliche Expertise anderer Disziplinen möglich. Je nach Erkrankung und den vorhandenen oder verbliebenen Kompetenzen der Patientinnen und Patienten ist die Zahl der beteiligten Professionen unterschiedlich groß. Von zentraler Bedeutung ist dabei allemal die Pflege. Sie spielt aber im klinischen QM keine Rolle.

Fehlermanagement

Es soll dazu beitragen, aus der Organisation heraus Verbesserungen zu erreichen und zur Risikoverringerung beitragen. Die schriftliche vorliegende Stellungnahme zu offensichtlichen Fehlern deutet darauf hin, dass damit hier aber nicht transparent und im Zusammenwirken mit allen Prozessgliedern, namentlich der Patientin, den Angehörigen sowie der Pflege, gearbeitet werden. Es ist daher davon auszugehen, dass sie sich in dem beschriebenen Krankenhaus wiederholen.

Beschwerdemanagement

Ein Beschwerdeverfahren mit dem Hinweis zu beenden, dass nichts weiter erfolgt, ohne auf die Beschwerdegründe einzugehen, ist nicht zufriedenstellend. Da die bearbeitende Stelle in dem Krankenhaus wie in vielen anderen Kliniken von einem Mediziner geleitet wird, spielt hier wohl auch das Professionsdilemma eine Rolle. Starke Fachgebiete sehen gegebenenfalls ihre Hoheit gefährdet, wenn Abweichungen aufgedeckt werden.

Fazit

Sicherlich lässt sich nicht eindeutig sagen, wie repräsentativ das beschriebene Beispiel von Frau Haller ist. Es handelt sich aber vermutlich nicht um einen Einzelfall. Immerhin illustriert er gut eine Reihe von Schwachstellen, unter denen das Klinikwesen und das QM bei einem komplexen Thema wie Entlassungsmanagement leiden können. Besonders bedenklich ist dabei, dass die Fehler nicht von denen verursacht wurden, die sich fachlich engagieren, sondern ausgerechnet seitens des QM! Es reicht eben nicht, wenn Regeln, Vorgaben und Standards Aktenreihen in QM-Handbüchern, Vertragsordnern und Standard-Broschüren abgedruckt sind. Sie müssen auch gelebt werden.

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

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