Digitalisierung – und die Dienstleistungsbranche?20 | 12 | 19

Wir 4.0?

Viel hört man vom 5G-Netz und Maschinenanbindung. Aber von Audits eher nicht.

In den Veranstaltungen der DGQ sowie der Kammern und Verbände geht es vermehrt um die Auswirkungen der digitalen Transformation, Stichwort Digitalisierung. Da geht es um neue Arbeitsweisen, das Verhältnis von Generation D und Y oder Z im Betrieb, den Einsatz digitaler Hilfsmittel, veränderte Geschäftsmodelle. Abgestellt wird stark auf technische Veränderungen, die den Produktionsprozess verändern. Seltener kommen Dienstleistungsprozesse in den Blick (etwa mit digital unterstützen Lernsettings), ganz selten die eigene Arbeit. Dabei verändern sich auch Audits wegen der digitalen Durchdringung der Lebenswelten.

Dienstleistungsgesellschaft?

Relative Verteuerung der Dienstleistungen durch höhere Produktivität in der Sachgüterproduktion

Auf das Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft zu Ende des letzten Jahrhunderts erwiderte der Präsident der Hamburger Industriellenvereinigung stets mit der Frage „Sie glauben also, wir können davon leben, wenn ich Ihnen die Haare schneide und Sie mir eine Versicherung verkaufen?“ Fundamental für den Wohlstand ist die Sachgüterproduktion. Seit dem Beginn der Arbeitsteilung ist die Produktivität in der Herstellung beständig gestiegen. Großvater musste noch einen ganzen Monat für ein Paar Stiefel arbeiten, Vater eine Woche, wir einen (halb so langen) Arbeitstag. Ein Mittelklassewagen wird heute in etwa 40 Stunden montiert – der Wochenarbeitszeit eines Dienstleisters. In den Dienstleistungsprozessen ist die Steigerung der Produktivität weder so stetig, noch so massiv erfolgt. Der Einsatz von Groß-Rechnern, später Arbeitsplatz-Computern hat Schübe gebracht. Organisatorisch sind Großraumbüros, Teamarbeit, auch agiles Arbeiten als Impulse für eine Produktivitätssteigerung zu sehen. Aber die Erfahrungen in der Systemgastronomie oder Pflege weisen schnell die Grenzen auf, wenn es um die ‚Industrialisierung personenbezogener Dienstleistungen‘ geht. Wer 40 Stunden Pflege, Training, Beratung, haushaltsbezogene Dienstleistungen braucht, muss (über den Geldtausch abstrahiert) heute mehr Stiefel (oder Auto) dafür tauschen als früher Vater oder Opa. Sachgüter sind billiger geworden. Im Umkehrschluss sind Dienstleistungen darauf bezogen teurer geworden. Daher haben wir eine erhebliche Diskussion um Pflegekosten, Landeshaushalte (1/2 Personalkosten) oder auch den Wert der Hausarbeit. Beispielhaft gesprochen: Der Elektriker kann sich einen neuen Fernseher beim Discounter leisten, nicht aber eine Stunde Reparatur von Kollegen. Dadurch kommen auch die Dienstleistungsangebote der Managementsystemverantwortlichen, Trainingsinstitute, der Consultants und der Auditoren die Betriebe ‚teuer zu stehen‘. Der Preisdruck auf Managementsystem- und Zertifizierungsdienstleistungen steigt nicht nur wegen der Reife der Märkte (wird oft schon als Commodity per Ausschreibung eingekauft), sondern auch wegen der volkswirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung.

Schöne neue Welt

Ist eine weitgehende Automatisierung von anspruchsvollen Dienstleistungen vorstellbar?

Einkauf und Personalbeschaffung haben es vorgemacht: Prozesse, die „von alters her“ erfahrenen Experten mit Fingerspitzen- und Bauchgefühl vorbehalten waren, sind heute weitgehend automatisiert. Natürlich nicht nur mit den gewünschten Ergebnissen, sondern auch mit Wechselwirkungen. Wenn Spezifikationen nicht ausgefeilt genug dargestellt werden können, muss der Anbieter von Trainingsleistungen schon mal Lokomotiv- und Kranzeiten mit ausfüllen („nur dann vergibt SAP eine Kundennummer, nur dann kann es später Geld geben“) und eine Zertifizierung wird eingekauft wie Schrauben. Aber: es hat sich trotzdem durchgesetzt und wird mit künstlicher Intelligenz laufend verbessert.

Ende des Fachkräftemangels?

Nicht alle Experten sind von Algorithmen zu ersetzen.

Pauschalen beinhalten stets Unschärfen, die aber zugunsten leichterer Abwicklung hingenommen werden. Dies zeigt auch das Beispiel der digitalisierten Einkommenssteuererklärung: Das komplizierte Unterfangen erledigen Sie in der Regel mit der von den Behörden bereitgestellten Software (ElStEr). Das gesamte Regelwerk wird in einen digitalen Rahmen gegossen, auf die konkrete Situation angewendet und ausgefüllt („Daten aus Vorjahr übernehmen?“). Viele Dinge werden gar nicht mehr geprüft (Pauschalen für Zahl Arbeitstage, Kinderfreibetrag unter 21 Jahren, usw.) und am Ende erfolgt lediglich eine Plausibilitätsprüfung. 80% „Selbstverständliches“ wird so von der Maschine erledigt – aber: Der Sachbearbeiter kann sich nun um die Besonderen 15% kümmern, sein Chef um die 5% rechtlich unklaren Fälle. Die Fachkräfte werden somit dennoch benötigt, deren Arbeit wird anspruchsvoller.

Weiteres Beispiel: Der MDK erstellt pro Jahr etwa 2,5 Millionen Pflegegutachten, etwa zur Einstufung des Pflegegrads. Natürlich von Experten, im Freitext. Aber in eine Datenbank hinein. Die sozialrechtlich einwandfreien Formulierungen lassen sich so (etwa zu Zwecken der Qualitätssicherung) tracken – natürlich anonymisiert (Patient) und verblindet (Gutachter). Und unsere Audits?

Je stärker Zulassungskriterien standardisiert werden, umso eher kommt eine digitale (Vor-)Begutachtung in Betracht.

Arbeiten Sie in einem Betrieb, der von Wirtschaftsprüfern einer Revision unterzogen wird? Fragen Sie diese einmal nach dem Digitalisierungsgrad ihrer Arbeit – Sie werden überrascht sein. Ein Experiment, das von Eckhard Jokisch von Orange-Moon Ltd im Rahmen eines DGQ-Regionalkreises in Schleswig-Holstein durchgeführt wurde, zeigte auch: Automatisierung ist schön und gut – verhilft aber nicht zwingend zu einem höheren Anspruch der Aufgaben. Die Gruppe des Regionalkreises wurde geteilt und beiden wurde ein 1.000-Teile-Puzzle gegeben. Es startete ein Wettbewerb: Welche Gruppe könne das Puzzle wohl schneller zusammenbauen? Bei einer der Gruppen waren die Teile auf der Rückseite von links nach rechts, von oben nach unten fortlaufend durchnummeriert. Nun war die grüne Rückseite nicht so schön wie die Vorderseite (kein „Segler im Sonnenuntergang“), die Arbeit nicht mehr so anspruchsvoll – aber automatisierbar. So funktioniert grob gesprochen eine Datenbank. Bei Zulassungen im Medizinproduktebereich könne man etwa die ca. 3.200 Forderungen der MDR (oder die 1.350 der ISO 13485) in eine Datenbank transferieren. Die Mitarbeiter in Entwicklung, Herstellung, Vertrieb, Einsatz, Service etc. würden nur noch mit den sie betreffenden Forderungen standardisiert ‚belästigt‘. Die Behörden in Irland seien schon überzeugt, in Deutschland starte man gerade. Würden erst die Standards auf automatisierte Entwicklung hin geschrieben, stünde weiteren Fortschritten nichts im Wege.

Und mal ehrlich: Konformitätsprüfung ist niemandes Delikatesse. Die Prosa eines Managementsystemstandards wird in der Begutachtungspraxis sowohl in der Vorbereitung der Unternehmen, als auch beim Auditor auf eine (wenn auch nur gedankliche) Checkliste umgesetzt, und für den Bericht wieder in Prosa zurücktransferiert. Wozu dieser Umweg? Trösten wir uns mit dem Gedanken, dass die bei Menschen verbleibende Begutachtungspraxis anspruchsvoller wird – und man noch mehr Konsumgüter als Gegenleistung dafür wird eintauschen können.

Über den Autor: Kai-Uwe Behrends

Kai-Uwe Behrends ist seit 2005 Leiter der DGQ-Landesgeschäftsstelle Nord in Hamburg. Vorher war der studierte Diplom-Volkswirt und -Sozialökonom Fachbereichsleiter und Qualitätsmanagement-Beauftragter einer Bildungseinrichtung mit 100 Mitarbeitern. Er ist Auditleiter der DQS für ISO 9001 und AZAV.

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