Digitalisierung der Qualitätssicherung – Abwarten ist keine kluge Option28 | 04 | 22
Predictive Quality nennen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen ihren Ansatz einer digitalen Qualitätssicherung.
Sie kombinieren Techniken künstlicher Intelligenz, der Data Analytics, moderner Sensorik und Datenverarbeitung. Ziel ist es, unter Hunderten, gar Tausenden Prozessparametern diejenigen und deren Kombinationen zu ermitteln, die maßgeblich für die zu erzeugenden Produktmerkmale sind. So entstehen Steuerungs- und Vorhersagemodelle für Qualität: Predictive Quality, vorhersagbare Qualität. Nichts anderes haben wir jahrzehntelang und mehr und mehr rechnergestützt auch schon getan, nur sind heute die technologischen Möglichkeiten enorm angewachsen. Mit neuer Digitaltechnik können wir viel kompliziertere, sogar komplexe Parametrierungen beherrschen.
Im gemeinsamen Webinar „Predictive Quality“ der Kooperationspartner DGQ, Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. (VDMA) sowie Miele & Cie. KG zeigten am 27.04.2022 Praktiker Guido Nilgen und Technologietransferspezialist Dr. Martin Peterek an Beispielen aus der Praxis, wie sich Predictive Quality ausgestalten lässt. Nilgen ist Director Quality Management im Technology Center Drives Miele Euskirchen. Peterek ist geschäftsführender Oberingenieur am Lehrstuhl für Fertigungsmesstechnik und Qualitätsmanagement, den DGQ-Präsident Professor Robert Schmitt innehat. Zudem ist er Geschäftsführer von IconPro, eines am WZL gegründeten Start-ups, das Unternehmen die Technik bereitstellt, mit der sie Daten für Predictive Quality auswerten und nutzen können.
Ein Teilnehmer hob darauf ab, dass er vorab wissen müsse, welchen konkreten Nutzen Predictive Quality erbringt, um die Investition darin zu rechtfertigen. „Das greift zu kurz“ sagt Guido Nilgen dazu. „Bei Miele gehen wir davon aus, dass uns Digitaltechnik Vorteile verschafft, auch für die Qualitätssicherung, zumal Qualität für Miele und seine Kunden einen bedeutenden Stellenwert hat. Welche Vorteile genau das sind und wie groß die Effekte sind, müssen wir in Bezug auf Predictive Quality noch weiter herausfinden.“ Für den Aufbau eines digital gestützten Assistenzsystems für den Kundendienst, das Beispiel, das Nilgen im Webinar vorstellte, ist das gelungen. Das System liefert bei einem von Kunden gemeldeten Ausfall oder Problem eine fundierte Diagnose und macht, sofern erforderlich, einen Lösungsvorschlag für einen Teiletausch. Der Vergleich der Pilotanwendung von einer mit dem Assistenzsystem ausgestatteten Gruppe mit einer klassisch agierenden Vergleichsgruppe ergab, dass nach acht Monaten Proof of Concept die Trefflichkeit der Diagnose um 47 Prozent gestiegen war. Wären die Service-Technikerinnen und -Techniker den Vorschlägen des Systems immer gefolgt, wäre die Trefflichkeit sogar um bis zu 85 Prozent gestiegen. „Dennoch war es gut“, sagt Nilgen, „dass wir dem Kundendienst die Option gaben, Diagnosen und Vorschlägen des Assistenzsystems nicht zu folgen. Die Akzeptanz dafür wäre sonst gering gewesen.“ Je besser das lernende System wird, desto eher würden sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf stützen, ist er überzeugt.
Akzeptanz hält auch Martin Peterek für einen Schlüsselerfolgsfaktor: „Die Usability der Software und der Plattformen, die wir nutzen, um Daten des Unternehmens in den Formaten, in denen sie zur Zeit vorliegen, auswertbar zu machen, muss einfach sein.“ Auch er kann gestützt auf Projekte mit Unternehmen aufzeigen, dass Predictive Quality erhebliche Verbesserungen erzielen kann. Er nannte Beispiele, in denen der Ausschuss um 30 Prozent verringert sowie zeitgleich auch der Prüfaufwand um die gleiche Größenordnung reduziert werden konnte.
Dr. Frank Bünting leitet beim VDMA unter anderem die AG Qualitätsmanagement. Er ermutigte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu, die Digitalisierung besonders auch für die Qualitätssicherung voranzutreiben: „Wir wollen als Verband dazu beitragen, dass die Unternehmen besser erkennen, wofür und wie sie digitale Techniken für die Qualitätssicherung einsetzen können. Dazu wollen wir mit dem WZL und der DGQ gemeinsam eine Roadmap Predictve Quality erarbeiten“.
Mein Fazit: Digitale Lösungen für die Qualitätssicherung und darüber hinaus werden uns nicht reif in den Schoß fallen. Wir müssen sie uns erarbeiten. Der Lernbedarf ist dabei oft groß, aber dieses Lernen erfolgt beim Tun. Wo uns Kompetenzen in unseren Teams, im Unternehmen fehlen, sind es die Universitäten und Fachhochschulen, vor allem aber auch deren Transferorganisationen und Start-ups, wie IconPro, bei denen wir die Ressourcen und Kompetenz finden, die uns fehlen. Für die, die zögern und abwarten, wird die Hürde für den Einstieg in digitale Technik allerdings immer höher, denn diese wird rasant weiterentwickelt. Und wir können uns nicht darauf verlassen, dass unser Wettbewerb ebenso zögerlich ist.