Digitale Ampel und die Pflege – auf den ersten Blick vielversprechend19 | 01 | 22

Die Konstellation scheint günstig: Ein Gesundheitsprofi im Ministeramt, immer mehr politisch Verantwortliche mit pflegerischer Fachexpertise im Bundestag, der Druck aus der Öffentlichkeit so hoch wie nie und eine Regierung, die sich den Fortschritt auf die Fahne geschrieben hat. Für die Ampelkoalition ist es also ein guter Zeitpunkt, die großen Herausforderungen in der Pflege anzugehen und sich frisch ans Werk zu machen.

Eines der Megathemen in der Pflege ist die vielschichtige Digitalisierung. Das Feld reicht von Softwarelösungen für Administration und Verwaltung über digitale Produkte zur Unterstützung des Pflegeprozesses bis hin zu intelligenter Technik mit sogenannten MTI-, SmartHome- oder SmartLiving-Systemen. Noch ist die Tinte des Koalitionsvertrages (KV) frisch und auch der neue Bundestag ist gerade erst dabei, seine Gremien zu sortieren. Gleichwohl lässt sich aus dem Vertrag der drei Regierungsparteien bereits eine Handschrift lesen, die wir hier aus Sicht der DGQ einordnen möchten: Wie sind die Pläne der neuen Bundesregierung in Bezug auf die sogenannte Digitalisierung in der Pflege einzuschätzen?

Pflegepolitik Digital: Chancen und Ansätze

Die DGQ hat das Feld der digitalen Assistenzsysteme innerhalb ihres Fokusbereichs Pflege bereits 2019 als Schwerpunktthema definiert und seither mit Fachartikeln, Webinaren und Blogs begleitet. Zuletzt haben wir in einer Reihe von Beiträgen die Wahlprogramme der großen Parteien mit Blick auf Pflege und Qualität analysiert. Darin wurde deutlich, dass Pflege vielfach durch die Brille des Begriffes „Wert“ gesehen wird, sowohl im materiellen, also finanzrechtlichen Sinne, als auch in der Bedeutung „Wertschätzung“. Zu Letzterem sind der Koalition vor allem zusätzliche steuerliche Anreize und Prämien in Milliardenhöhe eingefallen. Finanzierung und Kosten der Pflege stehen somit im Rampenlicht.

Die Koalitionäre sind allemal mit Fortschrittsthemen wie der Digitalisierung angetreten. Chancen ergeben sich bekanntlich für die Pflege in dem Feld zur Genüge. Doch findet das Thema neben der scheinbar dominierenden Finanzierungs- und Kostenfrage noch Platz? Immerhin leistet sich die Koalition zur Digitalisierung des Gesundheitswesens im KV einen eigenen Absatz und bezieht dabei ausdrücklich die Pflege ein. Gleich im ersten Satz wird dort eine Digitalisierungsstrategie angekündigt. Das ist aus Qualitätssicht ein begrüßenswerter Ansatz, nämlich zuerst die Ziele des Handelns zu definieren und den Weg dorthin zu planen. Außerdem will die Ampel ausdrücklich die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen, was ebenfalls erfreulich ist. Nach dem Planen kommt bekanntlich das „Doing“. Welche Ansätze die Koalition dabei für die Digitalisierung in der Pflege verfolgt, führen wir hier auf.

Wird die Pflege DigitAAL?

Pflege ist eine Beziehungsprofession. Die pflegerische Intervention dient dazu, Gesundheits- und Selbstpflege-Kompetenzen zu aktivieren und soziale Teilhabe zu fördern. Das kann durch intelligente Technologien unterstützt werden, die als Active-Assisted-Living (AAL) oder Mensch-Technik-Interaktion (MTI) Systeme bezeichnet werden. Diese Systeme können den eigentlichen Pflegeprozess unterstützen, aber auch zu dessen Dokumentation dienen. Im KV werden genau diese Punkte aufgenommen:

  • Erstens steht dort „unter anderem“. Die Aufzählung der Handlungsfelder verspricht also, nicht vollständig zu sein. Das lässt einerseits Spielraum für Spekulationen. Nüchtern betrachtet aber auch die Option für machbare Ergänzungen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, sofern sich das Machbare an pflegefachlicher Sinnhaftigkeit orientiert.
  • Digitalisierung für Dokumentationszwecke zu nutzen, ist hingegen eigentlich auch in der Pflege ein alter Hut. Sie birgt vor allem eine Gefahr. Wenn nämlich eigentlich überholte Prozesse lediglich in eine digitale Form überführt werden und damit weniger Zeit beanspruchen, also nur scheinbar effizienter werden. Ein Beispiel hierfür ist das Verordnungsmanagement, das eigentlich einer grundsätzlichen Reform bedarf und nicht allein der Digitalisierung überflüssiger Handlungsschritte.
  • Die Förderung der sozialen Teilhabe durch intelligente Technik (AAL, MTI) sollte aufgrund der Corona-Pandemie quasi als Muss auf der politischen Agenda stehen. Unzählige bewegende Geschichten sind in den vergangenen zwei Jahren veröffentlicht worden. Sie berichten über Menschen, die auf Grund der Kontaktbeschränkungen nicht mehr physisch zueinanderkommen und sich wegen der unzureichenden Verfügbarkeit virtueller Netze nicht einmal zweidimensional sehen können. Virtuelle Teilhabe bietet darüber hinaus aber auch noch ganz andere Möglichkeiten und hat Facetten, die in den letzten Punkt der Aufzählung im KV überleiten.
  • Die Nutzung digitaler Anwendungen, Technologien und Systeme für therapeutische Zwecke impliziert eigentlich einen Paradigmenwechsel. Denn dieses Feld war bisher der Medizin und in Teilen der Psychologie vorbehalten. Vor allem die Telemedizin hat hier in den vergangenen Jahren bereits große Schritte gemacht. Die pflegerische Therapie, also das, was pflegerische Intervention eigentlich ausmacht, hat bisher jedoch ein Schattendasein in der politischen Agenda gefristet. Mit digitalen Systemen wurde sie bis auf die wenig zielführenden Digitalen Pflegeanwendungen (DiPAs) der letzten Legislatur schon erst recht nicht in Verbindung gebracht!

Deming dreht sich im Kreis

Wenn wir die kurze Episode zur Digitalisierung der Pflege im KV, die lediglich einen Absatz mit zwei Sätzen einnimmt, nun zusammenfassend betrachten, dann wird deutlich: Es gibt das bemerkenswerte Versprechen, etwas für die pflegefachliche Weiterentwicklung zu tun und dafür die Digitalisierung zu nutzen. Voraussetzung ist natürlich, dass es sich um digital unterstützte Pflegeinterventionen handelt, deren fachlicher Nutzen mit wissenschaftlicher Evidenz belegt ist.

Da gibt es für den Forschungscampus in der Pflege viel zu tun. Zu beurteilen wird das Vorhaben natürlich erst sein, wenn sich die Politik an die Umsetzung, nämlich die Gesetzgebung macht und aus diesen Vorgaben gelebte Praxis wird. Wie schwierig das im Einzelnen sein kann, sieht man an den nicht so zahlreichen Zulassungszahlen für DiPAs. Von der Planung über den Nachweis des Nutzens bis zur Anwendung kann es also noch ein Stück des bürokratischen Weges sein.

Der Textabschnitt zur Digitalisierung im KV, auf den wir uns beziehen hier im Wortlaut:

Digitalisierung im Gesundheitswesen

„In einer regelmäßig fortgeschriebenen Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege legen wir einen besonderen Fokus auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer. In der Pflege werden wir die Digitalisierung u. a. zur Entlastung bei der Dokumentation, zur Förderung sozialer Teilhabe und für therapeutische Anwendungen nutzen.“ (Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP. Koalitionsvertrag der 20. Legislaturperiode vom 24. November 2021, Berlin, S. 83)

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

2 Kommentare bei “Digitale Ampel und die Pflege – auf den ersten Blick vielversprechend”

  1. 44067b1c1599613806a90347d510bf07 Regina Roos sagt:

    Toller Artikel.
    Vorschlag : ein solch wichtiges Thema sollte über andere Plattformen verlinkt werden, damit mehr Personen sich einklinken koennen in die Kommunication

  2. 8dec50bda25b367168df67d3603818ca Karlheinz Zacherl sagt:

    Der Wortlaut im Koalitionsvertrag ist schlicht und einfach leeres Gerede. Hauptsache es steht etwas geschrieben. Es gibt sehr gute regionale Lösungen, die mit viel persönlichem Engagement betrieben werden. (z B. Fußnetz Bayern). Es wird immer allgemein von Digitalisierung gesprochen. Das ist gerade in, es wird dabei immer vergessen, das der Pflegemarkt in sich stark zersplittert ist und eine Vernetzung von allen Akteuren, mit den heutigen Technikressourcen sehr aufwendig zu gestallten ist. Von den finanziellen und rechtlichen Anforderungen nicht zu sprechen. (z.B. Gesundheitskarte) Die technischen Umsetzungen sind auch durch die vielfältigen fachlichen Vorgaben schwer, wenn nicht sogar unmöglich, zu bewältigen. Es wird auch höchste Zeit um eine Definition, Beschreibung oder Erklärung: Was heißt eigentlich Digitalisierung in der Pflege? Das Wort Digitalisierung wird ständig kommentiert, nur es findet sich keine brauchbare Literatur der den eigentlichen Kern beschreibt.
    Den technischen Fortschritt, der erreicht wurde und der in den beruflichen Alltag bereits integriert wird, hat noch nichts mit Digitalisierung zu tun. Die Vorgaben in der Pflege zwingen dazu, trotz Technik, auf zusätzliche Sicherheitskopien zurückzugreifen. Technik ist nicht gleich Digitalisierung. Darüber sollte mal gesprochen werden, bevor solche Aussagen, wie im oben erwähnten Koalitionsvertrag abgedruckt werden.
    Der Hype der Digitalisierung ist in vielen Köpfen, man könnte den Eindruck gewinnen sonst nicht viel.
    Amen

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