Die Mobilitätskonzepte der Zukunft werden digitale Konzepte sein17 | 12 | 21
Im Interview berichtet Jörn Cerff, DGQ-Produktmanager, von seinem Besuch auf der IAA Mobility. Er berichtet von seinen Eindrücken, notwendigen Perspektivwechseln, zentralen Entwicklungen und Konsequenzen für das QM.
Was waren die zentralen Trends, Themen und Innovationen der diesjährigen IAA?
Eines vorweg: Das Konzept der IAA ist grundlegend neu. Übrigens zeigt sich das schon im Titel: IAA Mobility. Es geht nicht allein um Autos und technische Innovationen rund um dieses Produkt. Der Schwerpunkt der Messe ist tatsächlich die Frage: Was wird uns in Zukunft bewegen?
Das macht sich schon bei den Ausstellern bemerkbar. Es sind keineswegs nur die Autobauer und ihre Zulieferer, die die Messehallen füllten. Das Spektrum war sehr breit von Startups über Regionalvertretungen, Hochschulen, Softwareentwicklern bis hin zu den klassischen Herstellern und Zulieferfirmen.
Natürlich ging es auf der IAA Mobility um Technologie. Der Fokus lag hier aber eindeutig auf Zukunftstechnologien wie Elektromobilität, autonomen Fahren und Micro Mobility. Daneben wird aber die Konzeptfrage immer wichtiger: Aus welchen Lösungen werden wir in Zukunft für unsere Mobilitätsbedürfnisse auswählen können? Das eigene Auto, gesteuert von einem menschlichen Fahrer, wird uns zwar noch eine ganze Weile begleiten. Doch genau dazu müssen Alternativen her und die Zeit drängt. Zu diesem Thema war die IAA Mobility eine Ideenschau. Das ist es, wofür eine Messe da ist. Auf den Konferenzen und Vorträgen wurde jedoch sehr deutlich, dass es für eine flächendeckende Umsetzung neuer Mobilitätskonzepte auf den Regulierer, also Regierungen und Behörden, ankommt.
Ist die Pandemie eher Treiber oder Bremser dieser Entwicklungen?
Eindeutig Treiber. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie viel Veränderung in kurzer Zeit möglich ist, wenn es sein muss. Das macht Mut und setzt vielleicht auch neue Kreativität frei. Nun mussten sich auch Menschen mit digitalen Konzepten anfreunden, die sich schwer taten mit einem Zugang zu diesem Thema. Darunter hätte man bis vor wenigen Jahren auch die klassische europäische Automobilindustrie subsummieren können. Die Mobilitätskonzepte der Zukunft werden digitale Konzepte sein: Plattformgetrieben und Werbefinanziert. Das wird ein Multimilliardenmarkt. So gesehen war Corona vielleicht für die Automobilindustrie eher ein heilsamer Beschleuniger, als dass Einschränkungen durch Lockdown oder Homeoffice hier etwas ausgebremst hätten.
Was sind die Konsequenzen, wenn nicht mehr nur in erster Linie in Automobilen sondern in Mobilitätskonzepten gedacht wird?
Der Besuch auf der IAA Mobility hat tatsächlich geholfen, die Perspektive zu verschieben. Klar, das eigene Auto ist immer noch verlockend, weil bequem und ein (fast) Alleskönner. Wir können aber die Perspektive zumindest in Erwägung ziehen, dass der Aufwand an Ressourcen, den mein zu 95% stillstehender Alleskönner benötigt, um mir ab und zu in Mobilitätsdingen behilflich zu sein, zu hoch ist und schädlich. Dann fange ich an, meine Mobilität stärker zu beobachten und mir zu überlegen, welche Alternativen gibt es oder müsste es geben, damit ich konsequent umsteige. Sie sehen schon, ganz so weit ist es bei mir noch nicht. Aber die Lust auf neue Konzepte ist bei mir geweckt. Und das ist vielleicht eine der bedeutendsten Konsequenzen: Die neuen Konzepte müssen auch auf emotionale Akzeptanz stoßen. Mobilität muss auch ohne eigenes Auto positiv besetzt sein.
Was hat Sie auf der Messe am meisten überrascht?
Dass ich meinen Besuch besser hätte vorbereiten müssen. Die „alte“ IAA lief über die Jahre – wie alle anderen großen Automessen – immer recht ähnlich ab: Die Hersteller präsentieren ihre neuesten Modelle und Technologien in einem über Jahrzehnte kaum veränderten Basiskonzept. Das Schöne an diesen Messen war – zumindest für Auto-Interessierte wie mich: Es gab einen Überblick über nahezu alles, was in der Branche gerade vorzeigbar war. Die Vorbereitung beschränkte sich weitestgehend darauf, sich im Vorfeld über die Messeneuheiten zu informieren und die Lage der entsprechenden Herstellerstände herauszufinden. Aber selbst die änderten sich von Jahr zu Jahr oft nur geringfügig. Die „alte“ IAA war wie im „Blindflug“ zu erkunden.
Das hat sich schon sehr geändert. Konzepte sind ja nichts Haptisches. Sie sind zunächst Information. Entsprechend lohnt es sich sehr, sich vorab zu informieren, welche Vorträge, Podiumsdiskussionen oder Konferenzen zu welchen Themen wann und wo geboten werden. Für den klassischen „Messerundgang“ gibt es natürlich auch noch genügend Anschauungsmaterial. Auch die Autos fehlten ja nicht.
Mobilitätskonzepte, alternative Antriebe oder Digitalisierung haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Branche befindet sich mitten im Wandel. Welche Rolle spielt in solchen Zeiten das Thema „Qualität“?
Wenig überraschend: eine komplexe. Letztendlich führt Qualität zu einem positiven Nutzererlebnis. Daneben sollte ein Produkt oder eine Dienstleistung auch noch bezahlbar, sicher und nachhaltig sein. Oder sind die letztgenannten nicht auch schon Qualitätsmerkmale? Um es klar zu sagen: Spaltmaße waren nicht das große Thema der IAA Mobility. Um messbare, objektivierbare Qualität, die sich in Kennzahlen ausdrückt, ging es zumindest vordergründig weniger. Stattdessen: Die Mobilität in neuer Form zu einem emotional positiven Erlebnis zu machen, das Lust weckt auf nachhaltige Formen der Mobilität. Das setzt Qualität voraus. Sie findet im Hintergrund weiter statt, damit das Erlebnis im Vordergrund perfekt wirkt. Das ist vielleicht ein Effekt der Digitalisierung. Die Erlebniswelt, an die wir uns gewöhnt haben, geht mehr von digitalen Benutzeroberflächen aus als von Karosserien aus Stahlblech. Was früher im Zentrum der Betrachtung war, ist heute und mehr noch in Zukunft, bloße Umwelt. Das Auto mitsamt seinen früher gern heiß diskutierten Kennzahlen wird austauschbar. Das Erleben wird im Inneren stattfinden und dieses wird den Qualitätseindruck bestimmen. Dabei werden die Anforderungen an Qualität durch neue Technologien und vor allem die Vernetzung immer komplexer. Es braucht die kennzahlgetriebene Qualität um das Erlebnis Mobilität zu ermöglichen. Das ist in der neuen Technologie nicht anders als in der alten.
Welche Schwerpunkte hat das VDA QMC auf der IAA 2021 gesetzt?
Software spielt eine immer bedeutendere Rolle in der Automobilentwicklung. Nicht einmal der Autoreifen kommt ohne aus; Stichwort: Reifendruckkontrolle. Das spiegelt sich in den Revisionen der vorhandenen Automotive-Standards ebenso wieder, wie in den Themen, die mit neuen VDA-Bänden abgedeckt werden. So war die Integration von Software ein wichtiger Punkt bei der Revision der Produktionsprozess- und Produktfreigabe nach VDA 2. Ebenso bei der Qualitätsvorausplanung: Der neue Band Reifegradabsicherung für Neuteile steht in den Startlöchern. Die verstärkte Einbindung von Software beeinflusst die Arbeitsweise in der Entwicklung. Agile Vorgehensweisen ergänzen die klassischen Praktiken nach dem Wasserfallmodell. Auch hier setzt das VDA QMC Standards für die ganze Lieferkette und versucht darüber eine Vereinheitlichung in der Zusammenarbeit herzustellen. Auch bei der Überarbeitung des bedeutendsten Standards, des VDA 6.3, ist Software ein Treiber für Veränderungen.
Von wachsender Bedeutung ist auch das Thema Produktintegrität. Der VDA subsummiert unter diesem Begriff zwei große Themen: Produktsicherheit und Konformität mit gesetzlichen Anforderungen. Das Ganze ist eng gekoppelt mit Haftungsthemen bei sicherheitsrelevanten Vorfällen oder Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben. Leider ist bereits seit einiger Zeit eine Zunahme an behördlich angeordneten wie auch freiwilligen Rückrufen der Hersteller zu beobachten. Die Branche muss sich mit diesem Thema verstärkt auseinandersetzen.
Welche Kompetenzen werden aus Ihrer Sicht künftig für Auditorinnen, Auditoren und Auditierte in der Lieferkette wichtiger?
Das ergibt sich bereits aus den genannten Schwerpunkten. Generell zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Entwicklung stärker in den Fokus genommen werden muss. Es ist keine neue Weisheit: Fehler sind im Entwicklungsprozess, insbesondere noch bevor der Produktionsprozess Gestalt annimmt, mit dem geringsten Aufwand und somit am schnellsten abzustellen. Zur Verdeutlichung, wohin die Reise geht: Früher galt als Zeitrahmen für die Entwicklung eines neuen Modells etwa drei bis vier Jahre von Projektbeginn bis zur Serienreife. Heute drängen Wettbewerber in den Markt, die diese Zeit auf zwölf Monate reduzieren. Damit kann man sich aufwändige Korrekturen im späteren Projektverlauf nicht mehr erlauben. Entsprechend sollten Auditorinnen und Auditoren künftig einen größeren Schwerpunkt auf frühe Projektphasen legen.