Vergessen Sie’s! – Produktwissen27 | 05 | 20
Sind Sie schon länger im Unternehmen? Kennen Sie dessen Produkte und grundlegenden Technologien und Materialien in- und auswendig? Oder den Dienstleistungsprozess in all seinen Facetten? Sind Sie Produktexpertin oder -experte? Dann kann es sein, dass Ihnen das Schwierigkeiten bereitet. Und zwar dann, wenn Sie Qualitätsmerkmale festlegen sollen. Oder wenn Sie die Aufgabe bekommen, Kundenfeedback zu verstehen, sei es Lob oder Kritik bis hin zu Reklamation. Oder gar, wenn Sie helfen wollen, Produktinnovationen zu erzeugen oder wenn Sie dabei helfen wollen, Probleme zu lösen.
So ein Quatsch, mögen Sie jetzt denken, ohne mein Wissen über unsere Produkte und den Produktentstehungsprozess könnte ich meine Arbeit nicht gut machen, könnte weder Qualitätsmerkmale definieren noch Reklamationen beantworten.
Doch genau hier gibt es ein Dilemma, ich nenne es das Expertendilemma. Wer zu viel weiß, hat es recht schwer, adäquat mit denen zu kommunizieren, die viel weniger wissen. Und das sind nicht selten die eigenen Kunden. Natürlich gibt es im Geschäftskundenkontakt, bei dem Pharmazeuten mit Pharmazeuten, Pädagogen mit Pädagogen oder Ingenieure mit Ingenieuren sprechen, diese Informationsasymmetrie nicht oder sie ist nicht so ausgeprägt. Auch bei Konsumentenprodukten gibt es einige sehr gut informierte Käufer, regelrechte Experten. Doch selbst im Austausch zwischen Experten macht Wissen manchmal blind. Blind für überraschende Effekte, blind für abweichende Wahrnehmungen und Bewertungen, taub für das Unaussprechliche, Andersartige.
Datenanalysen, Befragungen, Customer Journeys und viele weitere Methoden helfen uns dabei, Kundenwünsche, -bedürfnisse und -anforderungen zu erheben. In Pflichtenheften, Verträgen und Produktspezifikationen definieren wir Qualitätsmerkmale. Allerdings bleibt die Gefahr groß, dass unser Expertentum uns dazu verleitet, unsere Kunden systematisch falsch zu verstehen. Nicht selten interpretieren wir, durchaus gestützt auf unser Wissen, die Ergebnisse der Methoden ganz falsch. Denn wir können uns gar nicht mehr in die Unbefangenheit, Unbedarftheit, Naivität der Nichtexperten hineinversetzten. Wir sagen dann, was sie wirklich gemeint haben und welche Qualität sie wirklich erlebt haben müssten. Uns entgeht so auch der Erfindungs- und Ideenreichtum unserer Kunden, die unsere Produkte auf Arten und Weisen gebrauchen und missbrauchen, die uns Experten völlig abgehen.
Vielleicht wollen Sie ihr Wissen aber gar nicht vergessen und selbst wenn, sie könnten es gar nicht. Aber Sie könnten ihren nichtwissenden Kunden noch viel aufmerksamer und unvoreingenommener zuhören. Sie könnten den Erklär- und Antwortreflex abstellen, der, gestützt auf Ihr immenses Wissen, sofort eine plausible, aber vielleicht nicht die einzig mögliche oder beste Antwort bereitstellt. Sie könnten aufhören, die Kundensprache sofort in Expertensprache zu übersetzen. Sie könnten die sich vordrängelnde Antwort bremsen und nach alternativen Antworten suchen.
Expertentum ist ohnehin eine schwierige Gratwanderung zwischen arrogantem Klugscheißer und sympathischem Besserwisser. Und mit Verlaub, Experten haben Sie doch in Entwicklung, Kundendienst, Vertrieb, Dienstleistungserbringung und Produktion genug. In deren Runden fehlt vielleicht jemand, die oder der querdenkt, andere Fragen stellt und andere Antworten hört. Der den Kunden zugesteht, besser im Sich-Etwas-Wünschen und im subjektiven Qualitätsbewerten zu sein, als die eigenen Experten. Der die Experten einmal aus ihren sich selbst verstärkenden Argumentationsschleifen befreit.
Was meinen Sie? Halten Sie es für nützlich und sind Sie bereit, Ihr Produktwissen zugunsten von mehr Qualität und Innovativität in den Hintergrund zu stellen?
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