Fit für VUCA?10 | 05 | 19
Die Erkenntnis, dass Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, neudeutsch VUCA, weiter um sich greifen werden, ist inzwischen weit verbreitet. Ebenso weit verbreitet ist die Erkenntnis, dass mehr vom gleichen nicht genug sein wird, um langfristig erfolgreich zu sein. Wir brauchen also Neues. Ein Element des Neuen ist, dass sich der Zielzustand eines Unternehmens in einer VUCA-Welt vor allem über die Fähigkeit definieren wird, sich in einem zunehmend unberechenbaren Umfeld immer wieder neu behaupten zu können.
Unsere Eingangshypothese: VUCA lässt sich weder aufhalten, noch eindämmen. Dinge verändern sich schneller und weder die Intensität noch die Richtung der Veränderungen lassen sich einigermaßen genau vorhersagen. Das geht so weit, dass auch bislang verlässliche Muster aufbrechen. Das einst Undenkbare oder scheinbar Irrationale findet plötzlich seinen Platz in der immer komplexeren und heterogeneren Realität.
Die Ursachen für solche Entwicklungen sind sicherlich vielfältig und es dürfte Wechselwirkungen ohne Ende geben. Sicher ist jedoch, dass die zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit auch Folge der technischen Entwicklung ist. Globale Echtzeitkommunikation und PCs, die binnen einer Millisekunde 125.000.000.000.000 Rechenoperationen ausführen können, sind zentrale Treiber.
Die abnehmende Vorhersehbarkeit wird trotz bahnbrechender Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz ebenso ein Thema bleiben. Einerseits, weil Regeln und gesellschaftliche Normen an Kraft verlieren und andererseits, weil Menschen seit jeher gegen die Vorhersehbarkeit des eigenen Verhaltens ankämpfen. Schließlich basieren viele Wettbewerbsvorteile auf der Fähigkeit, zu überraschen.
Wenn also – weil es die technischen Möglichkeiten gibt und weil Menschen es durch ihr Verhalten fördern – immer mehr unbekannte, unvorhersehbare und kurzfristig auftauchende Veränderungen auf uns zukommen werden, was ist zu tun? In unserem Alltag haben wir privat wie beruflich gelernt, dass Vorbereitung eine gute Antwort auf das Ungewisse ist. Dabei gibt es zwei Seiten der Vorbereitung. Einerseits kann ich auf die Reise in die VUCA-Welt möglichst viele vorgefertigte Lösungen mitnehmen. Mit etwas Glück habe ich dann für jede neue Herausforderung eine passende Lösung parat. Es ist wie ein Schlüsselbund mit hunderten von Schlüsseln. Andererseits kann ich Fähigkeiten erlernen oder entwickeln, die mir helfen, relevante Lösungen schnell zu kreieren. Dann ist an meinem Schlüsselbund im Idealfall nur noch ein Dietrich.
Was Wunder: Beide Varianten haben Vor- und Nachteile, ein pauschales Richtig oder Falsch gibt es nicht und die Wahrheit liegt wie immer irgendwo dazwischen. In einer Welt zunehmender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität wird aber, so unsere Prognose, die Option vorgefertigter Lösungen an Bedeutung verlieren. Der Schlüsselbund wäre zu groß, um ihn immer dabei zu haben und die Suche nach dem jeweils passenden Schlüssel würde auch viel zu lange dauern. Daher fokussieren wir uns im Folgenden auf die Frage, welche Fähigkeiten besonders wertvoll beim Umgang mit VUCA sein können. Und weil es hier um Unternehmen geht, betrachten wir die sogenannten organisationalen Fähigkeiten1.
Um ein Bild davon zu bekommen, wie Führungskräfte dazu stehen, haben wir mit zahlreichen unserer Kunden gesprochen. Das Ergebnis ist so etwas wie eine Hitliste der Top 15 organisationalen Fähigkeiten. Dabei ist zu beachten, dass sich die Fähigkeiten wie Zutaten in einem Gericht wechselseitig beeinflussen und ergänzen. Je nach Ziel variiert die optimale Zusammensetzung und Gewichtung einzelner Elemente.
Top 15 Organisationale Fähigkeiten
Auf der Reise in die VUCA-Welt sollten Unternehmen in der Lage sein,
- die Kundenorientierung zu stärken, um wahre Kundenbedarfe zu erkennen, zu erfüllen und somit Kunden langfristig an das Unternehmen zu binden. Denn in der „Economy of People“ reicht es nicht, Spezifikationen zu erfüllen. Vielmehr wird der gewinnen, der Kunden positiv überrascht und die Erreichung ihrer Ziele optimal unterstützt.
- Prioritäten zu setzen, um knappe Ressourcen auf die wirklich wichtigen Themen zu verteilen, damit diese auch schnell genug umgesetzt werden. Denn weniger ist oftmals mehr und bewusster Verzicht erhöht den Durchsatz und die Schlagkraft.
- Maßnahmen on time, on budget und on specification (OTOBOS) umzusetzen, denn nur eine umgesetzte Maßnahme ist eine gute Maßnahme. Pläne und Absichten allein sind wie Tiger ohne Zähne.
- das Immunsystem der Organisation zu stärken, um deren Handlungsfähigkeit auch in Schlechtwetterzeiten zu bewahren. In Zeiten steigender Wettbewerbsintensität ist Substanz überlebenswichtig. Dazu zählen finanzielle Reserven ebenso wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, robuste Prozesse und ein hinreichend differenziertes Leistungsportfolio, gegebenenfalls aber auch eine gefüllte Innovationspipeline oder Märkte, auf die Unternehmen im Falle eines Falles ausweichen können.
- Humankapital aufzubauen, um den Zugang zu Wissen und Können zu sichern. Denn mit zunehmender Automatisierung und Digitalisierung gewinnen qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Bedeutung.
- die Effizienz zu steigern, um Spielräume bei den Ressourcen zu schaffen. Denn der Preiswettbewerb wird auch künftig dazu führen, dass Ziele mit geringstmöglichem Auffand erreicht werden müssen.
- Effektivität zu steigern, um möglichst nur das zu tun, was wirklich wertschöpfend ist. Effektivität bedeutet, die richtigen Dinge zu tun. Und was richtig ist, entscheidet am Ende der Kunde.
- die Innovation zu fördern, um Wettbewerbsvorteile zu sichern. Bislang erfolgreiche Fast-Follower-Strategien werden in einer VUCA-Welt an Bedeutung verlieren. Insofern wird die Qualität des End-to-End-Innovationsprozesses immer wichtiger.
- Veränderungen zu managen, um nicht von ihnen überrollt zu werden. Denn aktive Gestaltung erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit.
- Komplexität zu beherrschen, um auf zunehmend heterogene Kundenwünsche wirtschaftlich rentabel eingehen zu können. Denn Kunden erwarten vernetzte Angebote, die individuelle Bedarfe adressieren und die sich in ihre Prozesse einfügen.
- Agilität zu erhöhen, um mit den Veränderungen stets mithalten zu können. Denn Geschwindigkeit erfordert in einem dynamischen Umfeld vor allem eines: kurze Reaktionszeiten.
- Transparenz zu schaffen, um besser steuern zu können. Denn informationsbasierte Steuerung erhöht die Treffsicherheit von Entscheidungen.
- Nachhaltigkeit zu sichern, damit Verbesserungen trotz VUCA langfristig wirken. Denn Erfolg ist kein Perpetuum Mobile, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
- Resilienz aufzubauen, um Rückschlägen den Schrecken zu nehmen. Denn Probleme und Schwierigkeiten sind Teil des Erfolgs – wenn man damit umgehen kann. Es geht immer darum, gestärkt aus Niederlagen hervorzugehen.
- Kollaboration zu fördern, um das vielfältige Wissen und Können in einem Unternehmen optimal zu nutzen und dadurch auch Motivation, Engagement und Energie frei zu setzen. Denn ein gutes System leistet mehr als die Summe seiner Komponenten.
Da unwahrscheinlich ist, dass Sie alle diese organisationalen Fähigkeiten entwickeln beziehungsweise weiterentwickeln können, gilt es, sich zu fokussieren:
Welche organisationalen Fähigkeiten werden Sie wann, wo und in welcher Ausprägung in Ihrem Unternehmen benötigen, um Ihre strategischen Ziele in der VUCA-Welt zu erreichen? Die Antwort wird – um nur einige Beispiel zu nennen – für kapitalintensive Produktionsunternehmen anders ausfallen, als für reine Dienstleister, für Unternehmen in schnell wachsenden Märkten anders, als für Unternehmen in gesättigten Märkten und für Kostenführer anders als für Qualitätsführer oder Nischenanbieter.
Organisationale Fähigkeiten sind Mittel zum Zweck
Insofern ist der erste Schritt die Ableitung der Handlungsfelder und die Definition derjenigen Kernmaßnahmen oder Themen, die für die Umsetzung der Strategie unverzichtbar sind. Im zweiten Schritt werden den Kernmaßnahmen oder Themen die jeweils relevanten organisationalen Fähigkeiten zugeordnet. Soweit, so gut. Jetzt geht es nur noch darum, die Fähigkeiten auszubauen oder zu entwickeln. Hierbei ist noch einmal die Unternehmensperspektive wichtig: es geht zunächst nicht um individuelle Fähigkeiten einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern um die Fähigkeit eines Unternehmens als Ganzem.
Am Anfang steht sicherlich der Wille der Menschen im Unternehmen, beispielsweise die Agilität zu erhöhen oder Maßnahmen OTOBOS umzusetzen. Neben dem Wollen sind aber noch das Können und das Dürfen zwingende Voraussetzung für die Umsetzung. Das klingt banal, bedeutet aber im Unternehmensalltag, dass die Entwicklung organisationaler Fähigkeiten kein reines HR-Thema ist. Im Gegenteil. Anreizsysteme und Qualifikation, Prozesse und Strukturen sowie Werte und Paradigmen müssen aufeinander abgestimmt sein. Jede Unwucht birgt Gefahren: Wollen und Können ohne Dürfen endet in Frust oder Kündigung. Wollen und Dürfen ohne Können führt unmittelbar zu Fehlern. Und Können und Dürfen ohne Wollen bedeutet schlicht und einfach Stillstand.
Fazit
Das Wesen von VUCA ist die Unvorhersehbarkeit. Um sich bestmöglich auf das Unvorhersehbare vorzubereiten, empfehlen wir, gezielt organisationale Fähigkeiten zu entwickeln oder zu stärken. Dabei ist die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur ein Teil. Ergänzend braucht es ein System, welches die Vielzahl individueller Fähigkeiten im Bedarfsfall abruft, vernetzt und schlussendlich dafür sorgt, dass diese auch ihre Wirkung entfalten können.
1Eine organisationale Fähigkeit ist „eine organisierte Verhaltensweise in einem Unternehmen, die in der Regel, zumindest in Teilen, wiederholt ausgeführt wird und sich aus organisationalen Routinen und eingebundenen Ressourcen zusammensetzt.“ (Sören Kupke, Allianzfähigkeit von Unternehmen, 2009)