Quo vadis, Turtle?4 | 07 | 17

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Wer sich mit der Analyse von Prozessen beschäftigt, kennt in der Regel das „Turtle-Modell“, auch „Turtle-Diagramm“, „Turtle-Methode“ oder – ganz ohne die Schildkröte – „8W-Methode“ genannt. Letzteres geht auf acht zentrale Wer-wie-was-womit-etc.-Fragen zurück, deren Beantwortung mehr Prozess-Transparenz schaffen und in der Folge zu Verbesserungen führen soll.

Wenn das Modell als Diagramm dargestellt wird, kann man mit etwas Phantasie die Ähnlichkeit der Elemente-Anordnung mit einer von oben betrachteten Schildkröte (engl. turtle) durchaus nachvollziehen. Assoziationen dieser Art tragen im Allgemeinen dazu bei, den Zusammenhang bei einem ansonsten eher komplizierten Sachverhalt leichter zu verstehen und auch im Kopf zu behalten. Und so eine Schildkröte lässt sich ja jederzeit gut vor das geistige Auge rufen.

Wenn man allerdings bei näherer Betrachtung des Diagramms die Assoziation mit der Schildkröte weiter vertieft, kann dieser eigentlich positive Effekt leicht in Irritation umschlagen. Eine für das Verinnerlichen des Diagramm-Inhalts nicht ganz unwichtige Frage könnte dann lauten: „In welche Richtung blickt eigentlich die Schildkröte im Turtle-Diagramm – in Richtung des ablaufenden Prozesses oder dieser entgegengesetzt?“

Vorne rein, hinten raus

Die Prozessrichtung wird in diesem Diagramm-Typ in der Regel von links nach rechts dargestellt. Wenn also der Input (meist symbolisiert durch einen Pfeil) nach rechts zeigt, muss die Schildkröte ihren Kopf genau in die entgegengesetzte Richtung (dann also nach links) halten, denn vorn am Kopf ist ihr Maul – und da sollte der Input unbedingt hinein. Zwangsläufig geht dann auch der Output anatomisch korrekt nach rechts wieder raus, also zum Hintern. Vorausgesetzt natürlich, dass der Input der Schildkröte kein Unwohlsein in der Magengegend verursacht – zum Beispiel wegen untauglicher Eingaben …

Intuitiv, also ohne viel darüber nachzudenken, würde man, vor allem auch wegen der Pfeilrichtung des Diagramms, die Blick- und Bewegungsrichtung der Schildkröte eher mit der Prozessrichtung gleichsetzen wollen. Die Einflussfaktoren (die vier Füße) helfen da nicht weiter, weil sie in der Regel oben und unten am Schildkrötenkörper symmetrisch als Kreise, Ellipsen, Quadrate oder Rechtecke angeordnet sind. Dazu sind Turtle-Diagramme oft auch noch links-rechts-symmetrisch dargestellt, also ohne Kopf und Hinterteil zu unterscheiden. Bei solchen Bildern passiert dann gar nichts, weil ja ohnehin keiner weiß, wo vorn und hinten ist. Andere Analysten jedoch verwenden zur besseren Darstellung und Einprägung eine naturnahe Abbildung oder sogar ein Schildkröten-Foto. Und dann aber eben auch mal falschrum!

Falsche Darstellungen sind gar nicht so selten

Als man sich den Turtle-Namen für das Modell ausdachte, hatte man diesen Effekt entweder übersehen oder für unwichtig befunden. Der eine oder andere Leser denkt jetzt vielleicht: Ist ja auch unwichtig, es kommt doch gar nicht darauf an, ob der Input vorne oder hinten reingeht, Hauptsache, er geht in Laufrichtung des Prozesses rein und kommt dann wo auch immer in dieser Laufrichtung wieder raus.

Also, ich habe schon (allerdings meist von Hand erstellte) Turtle-Diagramme mit irgendwie stilisierter Schildkröte gesehen, bei denen der Output auf eher unappetitliche Weise aus dem Schildkrötenmaul quoll. Das lenkt ab! Man braucht kein Bild zur Erleichterung des Verständnisses eines Sachverhalts zu entwerfen, wenn man es gleichzeitig durch sinnfreie Darstellung wieder ad absurdum führt. Das gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Turtle-Diagramm eigentlich als eine bewusst vereinfachte Darstellung eines Prozess-Modells dient, das nicht zuletzt die Einbindung ansonsten ganz normaler Mitarbeiter und deren Verständnis der oft ziemlich komplexen Vorgänge erleichtern soll.

Sprechen Sie doch einmal Ihre Kollegen an, ob sie die oben gestellte Frage spontan korrekt beantworten können – nur so zum Spaß, natürlich.

PS: Seit ISO 9001:2015 den risikobasierten Ansatz eingeführt hat, sollte es um das Schildkröten-Bild aber ohnehin geschehen sein. Denn die nun zwingende Betrachtung von Risiken und Chancen erfordert – ganz klar – ein fünftes Bein. Das aber hat die Evolution den uralten Testudinata zum Glück verweigert …

Über den Autor: Peter Blaha

Peter Blaha, geboren 1954 in Frankfurt am Main, ist freier Journalist mit Spezialisierung auf „Managementsysteme“ und „Weinwirtschaft“ und DGQ-Mitglied. Er widmet sich neben der Erstellung von Fachbeiträgen seit jeher (und mit Vorliebe) dem nach seiner Meinung oft viel zu wenig beachteten Phänomen unklarer bis kurioser Formulierungen und Schreibweisen in der deutschen (Q-)Sprache. Wer dabei eine gewisse Nähe zur Argumentation des bekannten Journalisten Wolf Schneider zu erkennen glaubt, liegt nicht ganz falsch.

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