Was Hormone mit Digitalisierung zu tun haben20 | 06 | 23
Es ist noch früh am Morgen. Weil ich am Vorabend angereist war, bin ich jetzt einer der ersten Gäste am ZESS in Bochum. Das ZESS ist das neue „Forschungszentrum für das Engineering Smarter Produkt-Service Systeme“ der Ruhr-Universität Bochum. Professor Martin Kröll hat mich zur Expert Conference „Digital Coach“ eingeladen, einer Veranstaltung im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprojektes. So kann ich beobachten, wie sich die nach und nach eintreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Projektpartner aus Bochum, Bulgarien, Griechenland und Ungarn begrüßen. Freudig und freundlich, lächelnd und lachend. Einige umarmen sich herzlich. Ein schönes Bild, das auch mir das Herz erwärmt. Bestimmt hat das Projektteam überwiegend digital kommuniziert, sich nur zu seltenen Gelegenheiten und in großen Abständen getroffen.
Was hier wohl gerade physiologisch passiert, habe ich kürzlich gelesen: Hormone werden produziert und ins Blut ausgeschüttet. Die Freude, das Glück, die Zuneigung, die Menschen in dieser Situation spüren, ist hormonell erzeugt. Es sind die „sozialen“ Hormone Serotonin sowie vor allem Oxytocin, die hier ins Spiel kommen. Wir setzen sie frei, wenn wir uns anderen oder andere sich uns gegenüber freundlich, sozial verhalten. Wenn wir uns anlächeln, uns Zuwendung geben, wohlwollend kommunizieren. Diese Hormone sind die chemischen Botenstoffe eines evolutionär entstandenen Belohnungssystems. Sie honorieren soziales Verhalten, indem sie Zufriedenheit, Gefühle des Glücks und sogar der Liebe in uns erzeugen. Weil wir diese Gefühle mögen, wollen wir sie oft erleben und verhalten uns entsprechend: sozial.
Unsere Evolution belohnt soziale Interaktion
Der evolutionäre Vorteil besteht darin, dass Individuen in Gruppen, deren Mitglieder sich vertrauen und füreinander einsetzen, Vorteile im Überlebenskampf gewinnen. Sie können gemeinsam Gefahren abwehren und Probleme lösen. Sie verschwenden nicht ihre Energie, indem sie einander als Rivalen bekämpfen oder in einen destruktiven Wettbewerb um Ressourcen treten. Gemeinsam können sie mehr erreichen, in widrigen Umwelten überleben und sich gegen andere Gruppen behaupten. Da unsere Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten limitiert sind, ist auch die Gruppe der Menschen, die uns eng verbunden sind, limitiert. Vor zehntausend Jahren gehörten wir zeitlebens zumeist derselben Gruppe oder Sippe an. Heute ist es normal, in Unternehmen, Wohnumfeld, Freundeskreis, Internationalem Forschungsprojekt und vielen weiteren Zirkeln mehreren unterschiedlichen und sich zum Teil überschneidenden Gruppen anzugehören und im Laufe der Zeit aus Gruppen aus- und in neue einzutreten.
Und was hat das mit Digitalisierung zu tun? Digitale Kontakte zwischen Individuen sind viel weniger intensiv als physische Begegnungen. Es fehlen Händeschütteln, Umarmungen, das Aufnehmen subtiler Kommunikationssignale, der freundliche Augenaufschlag, das Mikrolächeln, veränderte Stimmmodulationen und vieles mehr. Beim rein digitalen Kontakt mit anderen Menschen ist diese das Sozialverhalten belohnende Hormonausschüttung deshalb vermutlich viel schwächer. Und damit der Anreiz weniger stark. Noch geringer ist sie wohl bei der „Mensch-Maschine-Interaktion“. Wie hoch ist dabei Ihr Glücksgefühl? Wo bei digitaler Interaktion Glücksgefühl entsteht, ist zumeist Dopamin im Spiel, auch ein Hormon. Dopamin belohnt anders als Oxytocin oder Serotonin kein soziales Verhalten, sondern individuelle Zielerreichung. Das macht es bei Computerspielen oder der Nutzung der „Sozialen (sic!) Netzwerke“ so gefährlich, weil es zur exzessiven Nutzung bis hin zum Suchtverhalten stimulieren kann.
Belohnungssystem der Savanne trifft auf Digitalisierung
Ein Teil der Digitalisierung hat bedeutende Vorteile und verschafft uns Menschen dringend benötigte Fähigkeiten und Möglichkeiten. Sie kommt aber zu schnell, als dass die Evolution hätte erkennen können, ob und wie sie sie für „hormonell förderwürdig“ hält. Die soziale Interaktion mit und in der digitalen, virtuellen Welt erzeugt also für viele Menschen kein Glück, sondern weil sie uns und unserer Natur fremd ist, sogar im Gegenteil Stress und Angst. Wenn wir verstehen wollen, warum die Vorbehalte gegen die Digitale Transformation oft so groß sind oder wir andererseits süchtig nach in erhöhter Dosis gefährlichen oder nutzlosen digitalen Aktivitäten werden, dann müssen wir auch unser uraltes hormonbasiertes körperinternes Belohnungssystem kennen und in Grundzügen verstehen.
Letztlich wird uns ein nutzbringender Einsatz digitaler Technologien nur dann gelingen, wenn wir unseren Schwerpunkt darauf legen, dass die Menschen in Organisationen, aber auch in der Gesellschaft starke, sichere soziale Gruppen bilden können. Wer Digitalisierung vorantreiben will, als Führungskraft, Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler, als Beraterin oder Berater, als Technologieexpertin oder -experte, darf sich nicht allein damit befassen, wie die Technologie funktioniert. Wir müssen verstehen, dass es bei der Digitalisierung nie um digital oder analog, remote oder Präsenz, Menschen oder Technik gehen darf. Sondern um Menschen und Technik.
Das haben Hormone mit Digitalisierung zu tun. Deshalb ist es so wichtig, zu verstehen, wie Menschen und Gruppen „funktionieren“. Dazu gehört, zunächst verblüffend, doch letztlich völlig logisch, auch Basiswissen über Hormone.
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