Gut gemeint und doch nicht gut gemacht? – Die MDR muss sich erst noch bewähren17 | 08 | 22

Seit dem 26. Mai 2021 ist die Medical Device Regulation (MDR) in Kraft. Über ein Jahr später drängt sich die Frage auf, wie erfolgreich die Umsetzung der neuen Anforderungen in der Medizinproduktebranche eigentlich läuft. Anfangs gab es viele Spekulationen und Kritik.

Sechs Monate nach Geltungsbeginn hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) gemeinsam mit der MedicalMountains GmbH und SPECTARIS eine erste Umfrage bei Medizinprodukteherstellern in Deutschland durchgeführt. Die Erhebung sollte ein klareres Bild darüber abgeben, welche zentralen Probleme in der Umsetzung der MDR bestehen und wie sich die Situation hinsichtlich der Neuzertifizierungen in vielen Unternehmen darstellt.

378 Unternehmen haben den Fragebogen beantwortet. Die befragten Unternehmen decken sehr unterschiedliche Produktbereiche ab. 30 Prozent von ihnen sind beispielsweise im Bereich der chirurgischen Instrumente tätig. Die anderen Unternehmen stammen aus den Feldern Orthopädie und Rehabilitation, Zahnmedizin und Ophthalmologie (medizinisches Teilgebiet des Auges) sowie medizinische Hilfsmittel oder Investitionsgüter. Dabei sind in der Produktpalette alle verschiedenen Risikoklassen vertreten. Die Umfrage wurde im Dezember 2021 durchgeführt und bis April 2022 ausgewertet.

Guten Absichten fehlt die Praxistauglichkeit

Das Ziel der neuen EU-Verordnung MDR wurde von Anfang an lobend hervorgehoben. Sichere und verlässliche Medizinprodukte sind ein durchaus wichtiges und unterstützenswertes Anliegen, von dem alle Beteiligten profitieren. Doch die Umfrage zeigt, dass die strukturellen Voraussetzungen zur Umsetzung der neuen Anforderungen äußerst lückenhaft sind. Vor allem die geringe Anzahl an Benannten Stellen verdeutlicht, vor welchen wirtschaftlichen Herausforderungen Unternehmen stehen. Denn von ehemals 59 Benannten Stellen, die Medizinprodukte zertifizierten, sind es bisher EU-weit weniger als 30, die dies gemäß MDR durchführen können. Grund dafür ist ein langer, aufwendiger und strenger Benennungsprozess.

Hersteller bemängeln, die MDR sei nicht praxistauglich. Das liegt einerseits an den neu aufzubringenden finanziellen Ressourcen für die Zertifizierung, andererseits sind nicht lösbare Probleme in Unternehmen entstanden, beispielsweise nicht beantwortete Anträge bei Benannten Stellen. Die Umfrageerkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Herstellung mancher Medizinprodukte wird eingestellt

Aufgrund der neuen Anforderungen und finanziellen Aufwände stellen viele Hersteller die Produktion von Medizinprodukten ein. Dies gilt insbesondere für Bestands- und Nischenprodukte. Im Bereich der Zahnmedizin sind die Produkteinstellungen mit 78 Prozent am höchsten. Allerdings sind die Einstellungen auch in den anderen Anwendungsgebieten gravierend. Hersteller streichen teilweise ganze Produktsortimente. Besonders deutlich wird das, sobald für diese Produkte keine Alternativen am Markt vorhanden sind, wie beispielsweise für Produkte der Pädiatrie (Baby-Stents).

Zu viele Bestandsprodukte in der Zertifizierungswarteschleife

Bis zum 26. Mai 2024 können alle noch nicht zertifizierten Produkte am Markt nach MDR zertifiziert werden. Dann endet die sogenannte Übergangsfrist. Die Umfrage legt offen, dass jedoch weniger als 10 Prozent der Bestandsprodukte bei den befragten Unternehmen bisher neu zertifiziert wurden. Das ist unter anderem einem deutlich längeren Konformitätsbewertungsverfahren durch die Benannten Stellen geschuldet. Hier zeigt sich das Kapazitätsproblem der Benannten Stellen. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Bestandsprodukte nicht rechtzeitig vor Ende der Übergangsfrist neu zertifiziert werden können und somit vom Markt verschwinden werden.

Fehlende Innovationskraft

Die befragten Unternehmen geben an, dass 83 Prozent keine Zertifizierung innovativer Neuprodukte angehen. Ursache dafür sind die fehlenden Ressourcen und die hohen Anforderungen der MDR. Bei fast jedem zweiten Unternehmen liegen die Innovationsprojekte derzeit auf Eis.

Zusätzlich werden Bestandsprodukte gerade nicht geändert oder verbessert, da diese Verbesserungen oder Änderungen sich auf die Zertifizierung auswirken könnten. Unternehmen versuchen demnach, die Füße still zu halten, um nicht noch mehr Aufwand zu generieren. Die beschriebene Verzögerung bei Zertifizierungsverfahren trägt außerdem nicht dazu bei, dass Unternehmen neue Produkte einführen. Alternativen bietet hier der internationale Markt, beispielsweise in den USA oder Asien. Das Ausweichen auf andere Märkte wirkt sich jedoch auf die Forschung und Entwicklung von Produkten hier in Europa aus.

Aller schlechten Dinge sind drei?

Die Zusammenarbeit mit den Benannten Stellen offenbart drei gravierende Probleme für Medizinproduktehersteller: zu hohe Kosten, wenig Planungssicherheit und schwer generierbare klinische Daten.

Bei den hoch klassifizierten Medizinprodukten der Klasse III haben sich laut der Umfrage die Zertifizierungskosten verdoppelt. Hinzu kommt, dass die Kosten nicht transparent sind, was unter anderem mit der Überlastung der Benannten Stellen zusammenhängt. Diese Planungsunsicherheit führt dazu, dass Unternehmen die Kosten für die Neuzertifizierung gar nicht richtig einschätzen können. Neben weiteren Schwierigkeiten geben Unternehmen in der Umfrage an, dass die Technische Dokumentation und die Klinische Bewertung für sie am herausforderndsten sind. Die Liste der Hürden ist also lang.

Was für Lösungen werden gebraucht?

Die Umfrage verdeutlicht, dass gravierende Probleme für viele Medizinproduktehersteller durch die MDR entstanden sind. DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS stellen die „dauerhafte Sicherstellung der Versorgung von Patientinnen und Patienten“ als oberstes Ziel heraus. Dafür müssen „sichere, effektive und innovative“ Medizinprodukte hergestellt und vertrieben werden.

DIHK, MedicalMountains und SPECATRIS legen u.a. folgende Empfehlungen vor:

  • Dem Kapazitätsengpass bei den Benannten Stellen muss entgegengewirkt werden, um reibungslose Zertifizierungsdurchgänge zu gewährleisten. So könnten auch nach Ablauf der Übergangsfrist Zertifikate für Bestandsprodukte unbürokratischer verlängert werden. Außerdem könnte das Verfahren zur Benennung einer Benannten Stelle selbst verkürzt werden.
  • Die Ressourcen der Benannten Stellen sollten sinnvoller genutzt werden, wenn ihnen bestimmte Voraussetzungen erleichtert werden, beispielsweise Zulassung von Remote Audits oder eine schrittweise Einreichung von Dokumenten der Hersteller. Das würde die Bearbeitungszeiten entzerren.
  • Medizinprodukte, die sich bewährt haben sollten auf dem Markt bleiben. Dafür könnten unter anderem bestimmte Anforderungen aufgehoben werden (beispielsweise Vorlage von klinischen Studien). Nischenprodukte sollten außerdem gesondert betrachtet werden.
  • Die Innovationskraft der Branche ist wichtig, um auch Forschung und Entwicklung in Europa in der Medizinproduktebranche zu gewährleisten. DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS fordern daher, die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen und auszugestalten.

 

Die Umfrage des DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS finden Sie hier zum Nachlesen: Zur Umfrage » 

Über die Autorin: Anna Schramowski

Anna Schramowski ist studierte Politikwissenschaftlerin und Produktmanagerin bei der DGQ. Sie verantwortet u.a. die Trainings in den Bereichen Gesundheits-und Sozialwesen, Medizinprodukte und Labormanagement. Besonders wichtig ist ihr eine vielfältige, abwechslungsreiche und motivierende Weiterbildung mit viel Praxisbezug. Qualität bedeutet für sie vor allem Zusammenarbeit und Mitgestaltung.

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