Die innovativen Innovationsverweigerer2 | 08 | 17

Die Automobilindustrie

Wie die Automobilhersteller „Made in Germany“ gefährden

Ja, die Automobilindustrie war und ist wichtig für Deutschland. Sie hat das Qualitätsmanagement und die Innovationsfähigkeit in Deutschland lange und weit nach vorne gebracht. Als Leitindustrie hat sie die Wirtschaft, die Gesellschaft und „Made in Germany“ geprägt. Sie stand für Qualität, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit, für Fortschritt und technischen Vorsprung. Meinen Dank und Respekt dafür. Doch heute stehen die großen deutschen Automobilhersteller für ganz andere Dinge – haben die Tugenden vielfach ins Gegenteil verkehrt.

Immer noch sind die Hersteller und Zulieferer der Automobilindustrie beeindruckende Innovationstreiber. Hersteller und viele der Zulieferer haben halt nur die disruptiven, die Durchbruchsinnovationen verschlafen und verzögert und anderen die Startpositionen für die zukunftsfähigen Großinnovationen überlassen. Das gefährdet sie selbst, bedroht Arbeitsplätze und schwächt den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt.

Welch enorme Ingenieurs- und Innovationsressource versammeln die deutschen Automotiveunternehmen. Welche Durchbruchsinnovationen rund um neue Mobilitätskonzepte, alternative Antriebe und das Selbstfahren könnte diese Ressource vorantreiben. Doch die durchaus sehr klugen und eloquenten Automobilbosse haben diese Ressource auf die Optimierung des Verbrennungsmotors vergattert. Ihre Innovationskraft und Energie richteten sie auf die Lobbyarbeit, die Aufweichung verbindlicher Regelungen und deren Überwachung sowie – laut aktueller Medienberichterstattung – nicht zuletzt auf geheime Absprachen. Das hat Innovations- und Qualitätswettbewerb massiv behindert und an vielen Stellen sogar unterbunden. All die wohlfeilen Aussagen über Innovation, Qualität, Wettbewerb, Marktwirtschaft – ein leeres Gerede.

Und darin gefangen sind die Ingenieure, Unternehmer, Qualitätsmanager, mit ihrer Ambition und dem Potenzial, die dringend benötigten Innovationen für die Welt 4.0 gestalten zu können. Ihr Engagement und ihr Können wurden fehlgeleitet, in die überkommenen Konzepte von gestern kanalisiert, ihr Know-how an die goldene Kette gelegt – es ist zum Verzweifeln.

Wohin fließt jetzt die Energie der Politiker, Vorstände, Unternehmer, Ingenieure und Qualitätsmanager? In Verteidigung und Schönfärberei? Oder brechen einzelne jetzt aus der Phalanx aus und besinnen sich auf die echten Ingenieurs- und Unternehmertugenden, schaffen mit Mut unter hohem Risiko neue innovative Lösungen für eine schwierige und anspruchsvolle Zukunft mit endlichen Ressourcen und neuen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Herausforderungen?

Als Qualitätsbegeisterte sollten wir offen und schonungslos analysieren, was schiefgelaufen ist und daraufhin an neuen Wegen und Lösungen arbeiten. Wir sollten unsere Energie nicht in aussichtslosen Rückzugsgefechten verpulvern, sondern den Blick nach vorne richten. Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung können hierfür einen Beitrag leisten. Wir müssen mutiger für die Rechte der Kunden eintreten. Wir müssen Mitverantwortung für einen nach vorne gerichteten Innovationsansatz übernehmen. Wir müssen agile Organisations- und QM-Konzepte vorantreiben, um die Unternehmen beweglicher und innovativer zu gestalten. Wir sollten nicht mehr länger die kontinuierliche Verbesserung des Überkommenen betreiben, sondern den Weg für Durchbruchsinnovationen ebnen.

Wie denken Sie darüber? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare.

Ihr

Benedikt Sommerhoff

Über den Autor: Benedikt Sommerhoff

Benedikt Sommerhoff leitet bei der DGQ das Themenfeld Qualität & Innovation. Er beobachtet, analysiert und interpretiert die Paradigmenwechsel und Trends in Gesellschaft und Wirtschaft sowie ihre Wirkungen auf das Qualitätsmanagement. Seine zahlreichen Impulse in Form von Publikationen und inspirierenden Vorträgen geben Orientierung in Zeiten des Wandels. Sie ermutigen zur Neukonzeption des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten des DGQ-Netzwerks aus Praxis und Wissenschaft arbeitet Sommerhoff in Think Tanks und Pionierprojekten an der Entwicklung, Pilotierung und Vermittlung innovativer Konzepte und Methoden.

4 Kommentare bei “Die innovativen Innovationsverweigerer”

  1. 8559088ae1b4b53cdda30f02a948ff3b Jochen Heins sagt:

    Hmmm. Da sind vermutlich ein paar mehr Gedanken nötigt. Ehrenwerte Empörung ist notwendig, aber leider nicht hinreichend. Um zum Handeln zu gelangen, gilt es, das System von außen zu betrachten, in dem man gefangen ist. Ich spreche nicht von „der Automobilindustrie“, ich spreche vom QM! Schwerpunkt ist hier die „kontinuierliche Verbesserung“. Soweit, so gut. Aber: siso (nein, das schreibe ich nicht aus! Das ist ein angelsächsisches Akronym ;-)). Will sagen: Wenn ich „s“ kontinuierlich verbessere, kommt eben immer noch „s“ raus. Und kein Gold. Selbst wenn ich es perfekt verbessere. Daran haben sich die Alchimisten der vergangenen Äonen alle Zähne ausgebissen.

    Die im Artikel angefragte Disruption – ist dem QM fremd. Alles läuft geordnet ab. Es gibt Prozesse! Was nicht geordnet ist, also zufällig daher kommt, ist ein Risiko (oder eine Chance). Bestenfalls mache ich daraus einen Entwicklungsprozess, aber hui, ist der geregelt! Bloß kein Risiko, schon gar kein überraschendes :-). Da ist die DIN ISO 9001:2015 sehr klar! Und somit als Nährboden für neue innovative Lösungen unter hohem Risiko, wie es im Artikel so schön heißt, sicher denkbar ungeeignet. Eher eine Beamtenbude. Aber mit klaren Prinzipien und grundsätzlichen Vorgangsmodellen (für ein „qm-gutes“ Management). Also nichts für Startups, eher was für selbstmanifestierende Organisationsboliden, oder??

    Aber Spaß beiseite: Ich halte was auf solide Managementprozesse. Und auf Qualität und Ergebnisse. Sonst wäre ich nicht im QM tätig. Aber Agilität und tolle New Work Konzepte hin oder her: Organisationen sind anfällig für Machtstreber und Absicherer. Das ist wie ein Krebs auslösender Virus. Einmal drin, wird es ausgebrütet – und falls es das gibt, fordern die Selbsheilungskräfte schnell die gesamte Aufmerksamkeit des Organismus, der dann mit Fieber im Bett liegt und sich selbst beschäftigt – Markt ade, die Organisation kann gerade nicht …

    Also Ehrlich: QM ist nicht das Immunsystem. QM liefert ggf., wenn es gut läuft, einen Beitrag, dass dieses anläuft. Oder ist schon selbst befallen. Als Mitarbeiter, Führungskraft oder nicht, QMler oder nicht, kann ich das zwar sehen – aber selten gegen handeln. Wenn es geht, muss man dann mit den Füßen abstimmen und zu einem anderen Player wechseln. Wenn es nicht geht, muss man sich einigeln und auf die Rente warten – das Spiel läuft auch ohne einen selbst weiter. Love it, change it or leave it: Change erfordert oftmals eine so hohe Energie (oder den richtigen Hebel), dass man selber überfordert wird, selber zerbricht, oder die Organisation „ausgehebelt“ wird.

    Mal ein Szenario – man stelle sich vor: Die gigantischen Produktionsstraßen für Verbrennungsmaschinen müssen geschlossen werden, weil die zehntausende Montagemitarbeiter keine Kompetenzen für Elektroantriebe (Schulungsaufwand! Ausfallzeiten!) haben und die Maschinen sich nicht weiter verwenden lassen (Investitionen!). Sehr teuer. Leider ist klar, dass sich der Verbrenner nicht in dem Maße optimieren lässt bei gleichzeitiger Leistungs- und Individualitätsforderung des Marktes, wie Politik und Umwelt es fordern (und erfordern). Reduzierte Mengenabsätze (Flottenverbrauch) sind auch keine Lösung, denn jeder will ja seins (Mein Auto!). Kontinuierliche „Verbesserung“ gibt eben keine Disruption her, aber Anpassung. Dann eben auf der Schauseite des Unternehmens, in Werbebroschüren … und in der Steuerungssoftware.

    Und die Lösung? Es gibt keine. Der Dino stirbt aus. Der Komet ist eingeschlagen, Feuer und Rauch umhüllt diesen Planeten. Wenn das Futter ausgeht (und der Verbrennungsbedarf ist hoch!), dann ist Schluss! Doch gibt es noch Hoffnung: Mehrere kleine Spezies huschen bereits über diesen Planeten und trotzen den widrigen Bedingungen. Eine wird sich vielleicht durchsetzen …

    Also meine Meinung: QM ist nicht der heilige Gral. Es ist ein (sehr nützliches!) Werkzeug. Aber kein Messer dieser Welt schützt vor plötzlich einsetzendem Niederschlag. Es taugt zum Brotschneiden, Gegner zur Strecke bringen, Bierdeckel öffnen, etc. aber eben nicht als Schirm. Es ist also wichtig, diese Grenze der Wirksamkeit zu finden …

  2. Benedikt Sommerhoff sagt:

    Sie steuern viele kluge Gedankenbei, danke dafür. Natürlich ist QM nicht der heilige Gral. Darauf will ich auch gar nicht hinaus. Ich halte für wichtig, dass Qualitätsmanager die Bewahrerrolle nicht überstrapazieren und an der Veränderung, sogar der disruptiven Veränderung der Organisation aktiv mitwirken. Wenn Managementsystemgestaltung mehr als von der Unternehmensrealität entkoppelte QM-Bürokratie sein soll, dann ist sie Organisationsentwicklung. Dann müssen aber auch Qualitätsmanager als Organisationsentwickler agieren können, wollen und dürfen. Damit sie keine eierlegenden Wollmilchsäue sind, ist dann aber auch organisationsentwicklerisches Qualitätsmanagement zu unterscheiden von der Ingenieuraufgabe Qualitätssicherung.
    An mehreren der Knackpunkte, die Sie benennen ringt die DGQ gerade um neue Lösungen.
    Knackpunkt KVP versus Disruption: Wir befassen uns auch deshalb seit mehreren Jahren mit Design Thinking, weil die dort zugrundeliegende Kultur und Methoden neuartige Lösungen zu kreieren eine notwendige Ergänzung zum ewig extrapolierenden KVP darstellt. Wo steht denn, dass die Qualitätler für immer auf den KVP festgelegt sind und nicht zwischen KVP und Disruption wechseln können. Es nötigt uns doch niemand, beim siso einfach immer weiter zu machen.
    Knackpunkt Regelwerke: Die ISO 9001 behindert doch nicht Innovation im Unternehmen und im QM. Aber warum müssen wir dauernd über sie sprechen? Wir haben die Regelwerke zu Götzen erhoben. Wie kann es sein, dass bei den Automotive OEM systematisch Kunde und Gesetzgeber ausgetrickst werden (ich enthalte mich hier der Wertung, ob das noch legal oder schon illegal war) und gleichzeitig sitzen Qualitätsmanager dieser Unternehmen in Gremien zusammen und feinziselieren Regelwerke, die den agilen, innovationsfähigen Zulieferern die Luft zum Atmen nehmen und sie in die lieblose formelle Systembefriedigung nötigen. Hier wünsche ich mir einmal Disruption, Tabula Rasa, wieder Bezug zu Wirklichkeit zu nehmen mit Regelsystemen, die dynamischer, flexibler, innovationsoffener gestaltet sind.
    Knackpunkt Impotenz des QM: Die weitgehende Machtlosigkeit und Handlungsabstinenz der Qualitätler ist natürlich sehr stark durch Umfelder beeinflusst aber doch auch ein gutes Stück über Jahrzehnte selbstgemacht. Doch viele von uns haben längst aufgehört, sich das eigene Fachgebiet stark und schön zu reden und überlegen gemeinsam, wie sie Wirksamkeit und Anerkennung verbessern können. Dazu gehört aber auch der Wille zur Gestaltung, ja, ein Wille zur Macht. Es nützt doch nichts, „zum anderen Player zu wechseln“ nur um dort wieder unangefochten an den wirklichen Unternehmensherausforderungen vorbei arbeiten zu dürfen. Love it, change, it leave it haben wir am vergangenen Freitag im Fachkreis QM und Organisationsentwicklung diskutiert. Wir arbeiten an Ansatzpunkten für Kompetenz zum Change it, das Love it destruktiver Settings liegt uns halt nicht. Und wir ermutigen zum Leave ist, kein QMB sollte seine Seele verkaufen und seine Gesundheit ruinieren, wenn es nichts zu lieben gibt und trotz wachsender Changkompetenz sein Change it aktiv verhindert und bekämpft wird.
    Wenn der Dino ohnehin schon stirbt, dann sollten wir uns bewusst und schnell auf die Seite der kleinen Säugetiere schlagen. Wir müssen das QM selbst grundlegend neu für die neue Zeit gestalten. Ein Beitrag der DGQ dazu ist die Ausgestaltung dessen, was wir agiles QM nennen. http://blog.dgq.de/manifest-fuer-agiles-qualitaetsmanagement/

    Ich denke ja, dass wir in der Sache gar nicht so weit auseinanderliegen und hoffe, dass sich weitere Kollegen in die Diskussion einbringen.

  3. c11a11a771a6c0e4bc505e85852e948d Detlef Volke sagt:

    Sehr gut auf den Punkt gebracht – hervorragend!
    Damit dürften Sie vielen Qualitätern (und nicht nur denen) aus dem Herzen sprechen Herr Sommerhoff, also vielen Dank dafür…

    1. Benedikt Sommerhoff sagt:

      Freut mich, dass Sie zustimmen. Ich bin überzeugt, wir müssen uns als Qualitätler mehr und anders in die Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Unternehmen einbringen. Auch wenn einige Diskussionen schwierig bis unangenehm werden.

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